Behindernde Eltern

Wahr ist, dass das "Szenario einer frevelhaften Optimierung des Menschen durch Technologie" wilde Phantasie ist. Relativ simpel ist beispielsweise die Vererbung der Augenfarbe, die durch drei, noch nicht gänzlich verstandene Gene beeinflusst wird. Charaktereigenschaften, ob jemand fleißig oder faul, häuslich oder gesellig ist zum Beispiel, kann allerdings nicht via Manipulation einzelner Gene beeinträchtigt werden. Das Fleiß-Gen oder das Schlankheits-Gen gibt es nicht, auch wenn die Presse gerne mal derart vereinfachend von Durchbrüchen in der Genetik erzählt - es handelt sich stets um Allele-Kostellationen, die entweder kaum entschlüsselt oder vielleicht sogar unentschlüsselbar sind.

Der optimierte Mensch liegt somit (noch?) in weiter Ferne. Die Präimplantationsdiagnostik (PID) läßt sich mit diesem futuristischen Szenario nicht ächten. Dennoch stellt das Ja des Bundestages zur PID jene Büchse der Pandora dar, die diese Gesellschaft nachhaltig ändern wird. Leicht denkbar, dass eine Gesellschaft, die an knappen Sozialkassen krankt, irgendwann behinderte Mitmenschen scheel anstarrt. Wie konnten sich die Eltern des Behinderten nur trauen, einen solchen Menschen auf die Welt zu setzen? Sie hatten doch alle Möglichkeiten, diesen "unerwünschten Menschenentwurf" zu vereiteln. Warum soll die Solidargemeinschaft für jemanden aufkommen, der nicht hätte sein müssen? Die technologische Möglichkeit gebiert keinen optimierten Menschen, sie bringt aber eine gesellschaftliche Erwartungshaltung zur Welt, die die Elternschaft über ein behindertes Kind zu einer Art "quasikrimineller Plünderung der Sozialkassen" erklärt. Klamme Krankenkassen würden dieses Denken natürlich potenzieren. Behinderte Menschen wären somit nicht durch körperliche Funktionsausfälle behindert, sie wären es, weil sie die Gesellschaft behindern...

Der fast schon hysterisch befürchtete Dammbruch, so argumentierten die Befürworter der PID, habe in Großbritannien nie stattgefunden. Dort sei die PID seit dem Jahr 1992 erlaubt und eine Stigmatisierung behinderter Menschen und ihrer Eltern könne nicht verifiziert werden. Dies kann unbesehen geglaubt werden, denn nach knapp zwei Dekaden, kann die Entwicklung vielleicht auch noch nicht überblickt werden. Die Genetik ist zudem ein Feld, das in Wachstum begriffen ist, das heißt: je präsenter sie im alltäglichen Leben der Menschen wird, desto gläubiger wird man ihr verfallen. Und gerade in Deutschland, wo man fast schon traditionell an die "Macht der Gene" glaubt, und wo sich dieser Tage eine "neue Rechte aus der Mitte" um Hobby-Genetiker wie Thilo Sarrazin und Gunnar Heinsohn scharen, dürfte sich eine Hörigkeit Genen gegenüber, besonders schnell einstellen - wenn es sie nicht gar schon gibt, diese Hörigkeit. Diverse Debatten um knappe Ressourcen des Sozialwesens und zur Leistungsträgerschaft, wie sie die Eliten hierzulande fingieren, könnten die Marschroute gen Stigmatisierung behinderter Personen außerdem forcieren.

Genau genommen werden aber vermutlich gar nicht Behinderte stigmatisiert. Deren Eltern werden sozial ausgegrenzt, denn sie waren es ja, die die letzte Konsequenz unterlassen haben. Eltern von Behinderten sind demnach behindernde Eltern. Sie haben nicht auf die technologischen Mittel zurückgegriffen, die die Gesellschaft vor Unkosten bewahrt hätte. Mit der Miene wissenschaftlicher Seriosität, wird man dann besonders subtile Perversität walten lassen, wenn man Behinderte gar mitmenschlich bedauert, deren Eltern aber moralisch verurteilt - der behinderte Mensch als Opfer seiner Eltern! Das erinnert fatal an das nationalsozialistische Weltbild: Erst bedauerte man Eltern und deren "unbrauchbaren Nachwuchs", wollte diese Eltern von ihrer Bürde erlösen und dem Ermorden der Unbrauchbaren freie Bahn lassen (wollte nicht nur: man ließ zeitweise der Mordlust freien Lauf!), und modellierte liebende Eltern behinderter Kinder, die dem Morden nicht zustimmen wollten, zu Gesellschaftsfeinden, die gefühlsduselig, wie sie waren, dem Elternherz mehr Recht einräumten, als der Volksgemeinschaft, die diese "unnützen Esser" mitziehen musste.

Die PID mordet natürlich nicht, aber sie könnte zulassen, dass Eltern behinderter Kinder als Egoisten betrachtet werden. Sie ist so gesehen die subtilere Variante desselben Vorhabens. Man tötet nicht mehr - die heutige Gesellschaft würde die plumpen Mittel von dazumal nicht dulden. Aber Eltern "zur Vernunft" drangsalieren, sie der Verantwortung überstellen, ausschließlich gesunden und produktiv verwertbaren Nachwuchs zu zeugen, das kann man heute sehr wohl umsetzen. Andere Mittel, dasselbe Ziel...


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