Begebenheiten aus 48 Stunden Ulan-Ude. Zweiter Teil.

Zeit- und Rückenprobleme, viele Nadeln, Lenins Kopf, Lamas (nicht die Paarhufer aus den Anden) und Gespräche mit der burjatischen Intelligenzija: 48 Stunden können unglaublich ereignisreich sein.

Nachmittag: Ich bin mittlerweile in Ulan-Ude angekommen; die Reise hierhin nahm einen völlig anderen Verlauf, als geplant. Überraschungen machen das Leben eben spannender. Auch die kommenden Stunden sollten sich an diese Devise halten.

Freitag, 15:45 Uhr. Ich – der Italiener – , der Engländer, die Französin und die Tschechin sitzen zusammen mit einer Burjatin in einem Jurten-Restaurant und probieren uns durch die burjatische Speisekarte. Vorzüglich sind sie, die posy, mit Fleisch gefüllte Teigtaschen; und die anderen Fleischgerichte erst – eine wahre Gaumenfreude. Die Burjatin erzählt uns über ihr Leben als Ballerina, über ihr Sein als russifizierte Burjatin, schwärmt über ihre Reisen nach Europa. Sie sei letztes Jahr mit ihrer Mutter dort herumgereist, sagt sie, übernachtet hätten sie fast immer bei CouchSurfing-Mitgliedern (einem „Gastfreundschaftsnetzwerk“, wie es Wikipedia treffend beschreibt). Auch wir könnten ohne Weiteres bei ihr übernachten, falls wir wollten. Ob wir zu viert nicht zu viele seien, fragten wir nach. Nein, auf keinen Fall, antwortete sie. Gerne würden ihre Mutter und sie vier Ausländer für eine Nacht aufnehmen. Mit einem anfänglichen Gefühl der Sprachlosigkeit ob dieser spontanen Einladung stimmten wir zu. Dafür, dass sich der Engländer mit der Burjatin über das CouchSurfing-Netzwerk in Kontakt gesetzt hat, dafür werde ich ihm ewig dankbar sein.

19:30 Uhr. Nach einer Stadtführung von Aljona, der burjatischen Ballerina (ja, ich muss ihren Namen nun einfach nennen), sitzen wir in ihrer Wohnung, trinken Tee, essen romowye baby („Rum-Omas“, Gebäck mit Rosinen und Rum) und diskutieren zusammen mit ihrer Mutter über Ulan-Ude, Burjatien, Russland. Die Zeit verfliegt, ich habe selten zuvor solch interessante Gespräche geführt; ich bin hingerissen von der Intelligenz beider Burjatinnen, von deren Wissen und von den Anekdoten, die sie geradezu zu jedem Thema zu erzählen wissen. Nicht umsonst gilt das burjatische Volk in Russland als äußerst gebildet.

Samstag, 09:15 Uhr. Wir wollen in einer guten halben Stunde aufbrechen; unser Ziel: das ethnografische Museum von Ulan-Ude. Es sei ausgesprochen interessant, wurde uns gesagt. Nach einem gemeinsamen Frühstück könnte uns Aljona dorthin fahren, bot sie uns an. Wieder habe ich das Gefühl, dass man in Russland im Allgemeinen und in Ulan-Ude im Speziellen regelmäßig vor lauter Gastfreundlichkeit geradezu erschlagen wird.

Zwei Stunden später sollte ich mich jedoch nicht im ethnografischen Museum, sondern an einem gänzlich anderen Ort wiederfinden.

09:20 Uhr. Ich, immer noch überwältigt von den beiden Hausherrinnen, lasse keine Möglichkeit aus, mich als nützlich zu erweisen und meine Hilfe anzubieten. Als Aljona schließlich im Wohnzimmer versucht, den Klapptisch alleine vom Boden aufzuheben und aufzuklappen, bin ich im Nu zur Stelle; ich bücke mich, fasse den Klapptisch am unteren Ende und hebe ihn hoch. Das heißt, ich versuche, ihn hochzuheben. Mein Tatendrang wird jedoch jäh von einem stechenden Schmerz im Rücken gestoppt. Autsch, denke ich mir. Krumm stehe ich im Wohnzimmer, drücke meine Hände ins Kreuz und gebe ein lautes „blin“ (ein harmloses russisches Universalschimpfwort) von mir. Was denn los sei, fragt mich Aljona. Rückenschmerzen, antworte ich. Ich versuche, mich zu strecken. Nichts. Der Schmerz bleibt. Ich setze mich in den Sessel. Mein Sichtfeld verengt sich, die Konturen werden unscharf, es wird dunkel. Ich strenge mich an, wieder etwas zu erkennen, öffne die Augen bis zum Anschlag. Nichts. Kurz darauf höre ich nichts mehr.

Einige Minuten später. Ich komme wieder zu mir, liege auf einem Bett. Aljonas Mutter fächelt mir kühle Luft zu, gibt mir zu trinken und kühlt meine Stirn mit einem feuchten Tuch. Wow, so etwas ist mir noch nie passiert. Ich hätte auf niemanden mehr reagiert, sagt die Burjatin zu mir. Es war wohl der Schmerz und die Müdigkeit, die mich für einen Moment in höhere Sphären befördert hat. Nach einiger Zeit versuche ich mich aufzurichten. Schmerz. Also bleibe ich liegen.

Köstlich sind sie, die bliny mit Marmelade. Ich sitze gekrümmt auf einem Stuhl in der Küche und labe mich an den russischen Pfannkuchen. Der Engländer und die Französin brachten mich hierher. Ich höre, wie Aljona auf dem Flur einen Arzt nach dem anderen anruft. Schließlich kommt sie in die Küche und sagt: „Fritz, wenn du willst, fahren wir gleich zu einem dazan, einem tibetischen Tempel, dort wirst du akupunktiert.“ Ich freute mich wie ein kleines Kind.

10:45 Uhr. Ich liege auf einer Liege, spüre kleine Stiche in den Rücken. Nach einer Viertelstunde spaziere ich ohne Hilfe über das Klostergelände. Der Schmerz ist noch da, aber bei Weitem schwächer als noch eine halbe Stunde zuvor. Ich kann es kaum glauben. Einige Zeit schlendere ich mit Aljona und ihrer Mutter von Gebäude zu Gebäude; obwohl sie selbst russisch-orthodoxen Glaubens sind, erklären sie mir jedes Symbol, jedes Haus.

12:30 Uhr. Nach einer zweiten Akupunktursitzung stehe ich wieder auf dem Platz der Räte im Zentrum Ulan-Udes. Zusammen mit Aljonas Mutter warte ich auf Aljona, deren tägliches Ballett-Training bald endet. Mein Rücken zwickt noch ein wenig, trotzdem blicke ich glücklich und zufrieden in Richtung Lenins Kopf.

15:09 Uhr. Knapp geschafft. Wir klettern in den Zug Ulan-Ude – Moskau. Nach einem Mittagessen mit Aljona und ihrer Mutter fuhren wir mit dem Taxi zum Bahnhof; wegen eines Staus hätten wir um Haaresbreite den Zug verpasst. Gewundert hätte es mich nicht. Ausnahmsweise aber verlief alles nach Plan.

Zwischen 15:10 und 22:47 Uhr. Ich genieße die herrliche Aussicht auf die Selenga, den Baikalsee, das Küstengebirge. Der Engländer, die Französin, die Tschechin und ich, der Italiener, lassen die vergangenen zwei Tage noch einmal Revue passieren. Wir sind uns einig: sie waren einmalig, diese 48 Stunden.



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