Befindlichkeitsreportage - mehr nicht!

 

oder Eine Gegenrede auf die Gegenrede.
Wüllenweber hat Fürsprecher. Nicht wenige, wie man vermuten darf. Wer es selbst beim Bertelsmann-Sender RTL ins Boulevard (Explosiv - Das Magazin) schafft, um dort mit seinem Buch lobend und empfehlend erwähnt zu werden, dem kann man Fürsprecher nicht absprechen. Bei den NachDenkSeiten sprach einer dieser Fürsprecher vor. Er lobte Wüllenweber als "renommierten Reporter" und "Glücksfall" - das kann wie gesagt nicht erstaunen, denn Wüllenweber spricht jene Affekte in der Mittelschicht an, die in der Tea Party-Bewegung ebenfalls glänzend ziehen. Hie wie dort spricht man von der verarschten, ausgebeuteten Schicht, die von Oben wie Unten gleichermaßen ausgesaugt wird. Alleine die Gleichsetzung von Armut und Reichtum ist so hanebüchen, dass von Seriosität keine Rede mehr sein kann. Aber daran stört sich offenbar ein Massenpublikum nicht. Es findet darin persönliche Ressentiments und kurzatmige Schlussfolgerungen bestätigt.

Der Einstieg in die Gegenrede bringt zögerlich ein Argument an, das man schon damals vernahm, als Sarrazin dieses Land mit seinem Werk beglückte. Sein Argument und das seiner Anhänger lautete: Haben Sie das Buch überhaupt gelesen? Dieser Satz sollte Kritik entkräften. Nur der Eingeweihte habe das Recht, das Buch zu kritisieren - und falls er es gelesen habe, so hat er es eben falsch verstanden. Gelesen oder nicht gelesen ist kein Argument: es ist Abwürgen. Wer muss Mein Kampf lesen haben, um zu wissen, wohin es zielt? Wer Sarrazins eugenischen Unrat? Das heißt nicht, dass ich es nicht gelesen hätte. Aber ich lasse mich darauf gar nicht ein. Selbst der, der es nicht gelesen hat, kann aufgrund der Gleichsetzung von Hartz IV-Empfänger und Milliardär, von dieser teapartyesken Parole Wir Mittelschicht sind die Deppen, die von arm und reich geplündert werden! eine Meinung heranbilden.
Die "Bildung, Bildung, Bildung", die Wüllenweber fordert, um die Hartz IV-Schicht zu reanimieren, ist sicherlich kein Anzeichen dafür, dass der Autor besonders aufgeklärt wäre, wie das die Gegenrede vermitteln will. Denn Wüllenweber erklärt damit ja eindeutig, dass die Leute der Unterschicht nur deshalb abhängig sind von Sozialleistungen, weil sie nicht gebildet genug sind. Das ist natürlich Unsinn, man weiß von mit Arbeitslosengeld II aufstockenden Akademikern und von Facharbeitern, die in die Langzeitarbeitslosigkeit rutschen oder in Leiharbeit, die gleichfalls nicht vom Jobcenter unabhängig macht. Wenn Wüllenweber "Bildung, Bildung, Bildung" zur Parole kürt, dann bedient er die üblichen Vorurteile der Mittelschicht, es würden nur Dummköpfe und Faulpelze in Hartz IV fallen. Bildung ist zweifellos wichtig. Was Bildung sein soll, braucht an dieser Stelle nicht geklärt werden. Wüllenweber erachtet vermutlich Ausbildung für wichtiger als Allgemeinbildung. Nur ist Bildung bei aller Wichtigkeit lediglich ein Aspekt, nicht das generelle Allheilmittel, zu dem sie verbrämt wird. Der Thatcherismus hat einst das Credo vom Wir sind alle Mittelschicht! installiert - und er hat stets betont, dass jeder aufsteigen könne, wenn er nur gebildet genug sei. Damit war die offizielle Erkenntnis gesichert, dass derjenige, der in der Unterschicht zurückbleibt, irgendwie dumm sein muss.
Dass Wüllenweber im organisierten Reichtum den Täter erkannt hat, wäre ja erfreulich. Dumm nur, dass er gleich auch noch die verwaltete und gewollte Armut kriminalisiert. Was daran Erkenntnisgewinn sein soll, vermag ich nicht zu sagen. Diese Gleichmacherei und die Abschottung nach allen Richtungen ist es, die die Tea Party ausmacht. Mit diesem strikten Selbstbemitleiden, verarscht von Reichen wie Armen gleichermaßen zu sein, schleicht sich der abgewirtschaftete Konservatismus zurück an die Tröge der Macht. Nun könne man auch sagen, dass die Tea Party natürlich weit weg ist. Geographisch bestimmt. Ideologisch aber ganz sicher nicht. Der Schoß ist auch hier fruchtbar.
Die Seiten zur Hilfsindustrie, die Wüllenweber beschreibt, können indes kaum noch ernstgenommen werden. Wer auf so falsche Prämissen baut, wer das Leben in Armut mit der Sorgenlosigkeit des Reichtums gleichsetzt, der ist grundsätzlich als seriöser Gesprächspartner disqualifiziert. Der "renommierte Reporter" und "Glücksfall" hat sich freilich schon vorher disqualifiziert. Berüchtigt ist sein eigentümlicher "Beschwerdebrief nach Griechenland", in dem er den Griechen vorhält, dass sie streiken, statt zu sparen. Kurzer Auszug: "Rein rechnerisch haben wir Deutschen mit den Jahren jedem von Euch Griechen, vom Säugling bis zum Greis, über 9000 Euro geschenkt. Einfach so. War doch nett, oder? Freiwillig hat wohl noch nie ein Volk ein anderes über einen so langen Zeitraum so großzügig unterstützt. Ihr seid fürwahr unsere teuersten Freunde." Wahrlich, da spricht großes Renomée! Ist das Qualität? Schlägt ein linksgerichteter Journalist solche Töne an, hätte man ihm Populismus oder gar Demagogie vorgeworfen. Hier hatte Wüllenweber schon vorab bewiesen, mit welchem kritischen Verstand er ans Werk schreitet. Seine Tätigkeit bei der IZA unterstreicht das lediglich.
Und schon vor Jahren schrieb dieser "renommierte Reporter" von sexueller Verwahrlosung speziell in der Unterschicht, in der Sexualität für Frauen immer wichtiger würde, weil sie nur noch darin erfolgreich sein könnten. Deutlicher gesagt entwarf Wüllenweber hier das Bild der asozialen Hartz-Schlampe, die es wild treibt, nicht verhütet und auch noch viel zu viele Kinder auf die Welt bringt. Man muss kein stockkonservativer Knochen sein, um zu erkennen, dass es einen unwürdigen Umgang mit Sexualität in der westlichen Gesellschaft gibt. Aber ist der ein Produkt der Unterschicht? Oder sind es nicht gerade auch Mitglieder der Mittelschicht, die dem sexualisierten Alltag Auftrieb geben? Gerade Bushido wirft man ja vor, dass er besonders derbe und harte Texte mit sexualisiertem Inhalt rappt - und es ist gerade dieser Mann, der mal in einem Interview klarstellte, er komme aus keinem Ghetto, sondern aus der Mittelschicht.
Nein, Wüllenweber ist nicht der anständige Kämpfer für eine bessere Gesellschaft, wie es der Gegenredner gerne hätte. Zu oft hat er klassistische Aufsätze geschrieben, zu oft gegen die Unterschicht gehetzt. Kann ja sein, dass er den Reichtum nicht leiden kann, sich auch von den Reichen betrogen fühlt. Aber mindestens genauso von der Armut. Sein aktuelles Buch ist da nur folgerichtig. Aufklärung ist es nicht. "Linke Debatten über die Spaltung der Gesellschaft und den Weg in die “marktkonforme Demokartie” müssen anschlussfähig sein für die Erfahrungen und den Alltagsverstand in den Mittelschichten", schreibt der Gegenredner letztlich. Wenn linke Debatten Ressentiments aufgreifen, um verständlich zu sein, dann sind sie nur noch Debatten; das ist nicht Information, das ist Befindlichkeitsreportage. Na, wie geht es uns heute so als Mittelschicht?
Wüllenweber zu einem Linken zu erklären, und so kann man diesen Satz nur verstehen, ist natürlich nicht nur witzig, es ist so eine übliche Vermengung von Links und Rechts, bis nichts mehr übrigbleibt, was Konturen schafft. So verlor die parteilich organisierte Linke in Europa ihre Kontur; aus diesem Milieu der Anschlussfähigkeit an Erfahrungen, die meist nicht mehr als Vorurteile und falsche Information sind, entstieg New Labour und die Sozialdemokratie seit Schröder.


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