Barrierefreiheit als Gegenstand von Softwaretests

Allein in Deutschland leben etwa 6-8 Millionen Menschen mit Behinderung. Viele von ihnen konnten in den letzten zehn Jahren ihre Lebensqualität durch die Verfügbarkeit von Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten im Internet beträchtlich steigern. Manchem dient das Internet auch als Beruf und Broterwerb. Doch gerade für Internetnutzer mit Einschränkungen ihrer Sinnes- und Wahrnehmungsfähigkeit sind sog. „barrierefreie“ Websites und Webanwendungen von enormer Bedeutung.

Das was versteht man unter Barrierefreiheit? Da es um rechtliche Belange und Definitionen geht, hilft zunächst ein Blick ins einschlägige Gesetz, in diesem Falle das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG). Dort findet man im § 4 die Legaldefinition der Barrierefreiheit:

Barrierefrei sind … Systeme der Informationsverarbeitung … und Kommunikationseinrichtungen  … wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.

Barrierefrei ist eine Webanwendung also dann, wenn sie auch mit alternativen Darstellungswegen wie Textvorlesesoftware, Braillebrowsern usw. benutzt werden kann.  Denn dies ist für viele Menschen mit Wahrnehmungsbeeinträchtigungen die für sie „allgemein üblichen Weise“ der Informationsverarbeitung am Computer.

Dazu ist es meist erforderlich, Informationen und Interaktionsmöglichkeiten orientiert an Webstandards und auf mehreren alternativen Wegen redundant bereitzustellen. Beispielsweise für eine grafische Darstellung eine Beschreibung des Inhaltes in Textform in den Metadaten zu hinterlegen, wo sie ein Textbrowser wie z.B. Lynx auslesen kann.

Für die Informationsangebote der Bundes- und Landesverwaltungen sowie zahlreicher weiterer staatlicher Institutionen in Deutschland ist seit 2002 die weitgehende Barrierefreiheit inzwischen rechtlich in der Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV) gefordert. Sie geht auf § 11 des BGG zurück und definiert konkrete Anforderungen an Informationssysteme zur Umsetzung von Barrierefreiheit. Daher findet man entsprechende Kriterien inzwischen auch in zahlreichen Vergabeunterlagen für Ausschreibungen der öffentlichen Hand die Beschaffung oder Entwicklung von Softwareprodukten und Webauftritte betreffend.

Die bereits erwähnten Webstandards bilden dabei ein wichtiges Fundament. Denn wer seine Softwareprodukte und Webanwendungen an den dort definierten Normen orientiert entwickelt und die Standards einhält, hat bereits große Teile der Anforderungen zur Barrierefreiheit erfüllt, ohne dafür zusätzlichen Aufwand betreiben zu müssen.

Barrierefreiheit kann  wie fast jede Qualitätseigenschaft von Softwareprodukten getestet werden, so dass Tests auf Barrierefreiheit und einschlägige Produktzertifizierungen sich inzwischen zu einem eigenen (sehr speziellen) Marktsegment im Bereich der Softwarequalität entwickelt haben. Konkret geht es dabei um teilautomatische Konformitätstest auf die Einhaltung von Webstandards sowie Usabilitytests einzelner Programmkomponenten oder auch vollständiger Systeme auf Gebrauchstauglichkeit der vorgesehenen Funktionalität durch entsprechend qualifizierte Prüfer.

So bietet z.B. das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Rahmen des Projektes „Barrierefrei informieren und kommunizieren“ Beratung rund um das Thema Barrierefreiheit sowie entsprechende Testdienstleistungen an.  Auch Initiativen wie z.B. das von Aktion Mensch getragene einfach-fuer-alle-Projekt mit seinem Biene-Award treiben das Thema Barrierefreiheit bereits seit mehreren Jahren voran. Nicht zuletzt haben auch mehrere Behindertenverbände kürzlich das Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit gegründet, um die praktische Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes voranzutreiben.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Themen Barrierefreiheit und Webstandards zur Entwicklung eines neuen Nischenmarktes für Konformitätstests und begleitende Beratungsdienstleistungen geführt haben. Und dass bereits seit einiger Zeit beträchtliche Anstrengungen unternommen werden, um das erforderliche Fachwissen in die Breite der Entwickler-, Tester- und Anwender-Community zu tragen.



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