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ine Bilanz von Elisabeth Naumann und Werner Röder
Die FCI-Rasse "Azawakh" ist die hiesige Population der Herden-, Lager- und Jagdwindhunde der Tamaschek-Nomaden im afrikanischen Sahel. Azawakhs gehören zu den wenigen Gebrauchshundrassen, die noch unter ursprünglichen Bedingungen in ihren Enstehungsisolaten auffindbar sind.
Von kynologischer und ethologischer Seite stellt sich die Frage, auf welche Weise solche historischen Bestände des canis familiaris heutzutage am Leben erhalten werden können: In staatlich subventionierten Schutzgebieten unter musealer Aufrechterhaltung der alten Mensch-Hund-Beziehungen, durch Schaffung von zoologischen Zentren mit den Umweltbedingungen der ehemaligen Habitate, über die gesellschaftliche Wiederbelebung von Haltungs- und Verwendungsbrauchtum - so etwa in der arabischen Welt - oder durch die Propagierung als "Nationalrassen" zur Förderung kultureller Identität. Schließlich bietet sich die Möglichkeit, Vertreter bedrohter Bestände in westliche Länder mit etablierten Zuchtsystemen zu verpflanzen, um die Rasse in das dortige "Hundewesen" zu integrieren.
Im Unterschied zu extrem geprägten Schlägen wie etwa exotischen Herdenschutzhunden erschien dies bei den vielseitig talentierten Azawakhs als gangbarer Weg mit Möglichkeiten für eine überwiegend artgerechte Haltung. Begonnen hat der Versuch in den 1970er Jahren von Seiten des ehemaligen Kolonialpatrons Frankreich. Unsere Untersuchung ist nicht zuletzt auf die Frage abgestellt, inwieweit ein Überleben als originäre Rasse im Exil aus populationsgenetischer Sicht durchsetzbar ist.
Der Beitrag geht dabei von kynologischen Positionen aus, die der Mitautor im Zentralorgan des DWZRV, Unsere Windhunde, November 2008, Themenheft Azawakh, beschrieben hat (siehe Werner Röder, The Fatal Attraction. Muss der Azawakh das Schicksal seiner europäischen Artgenossen teilen? S.36 - 41; auch bei www.arbeitskreis-azawakh.com).
Die in dieser Untersuchung erfassten 24 europäischen AZ-Würfe aus dem Jahr 2011 weisen die folgenden kompletten Inzuchtkoeffizienten (IK) und die Ahnenverlustkoeffizienten (AVK) auf, letztere unter Berücksichtigung von fünf Generationen.
Legt man zugrunde, dass einzelne Zuchtverbände in Anlehnung an den Forschungsstand erst bei einem IK über 10 und einem AVK unter 75 die Zuchttauglichkeit verneinen, bewegen sich die Werte mehrheitlich im "grünen Bereich". Die meisten Azawakhzüchterinnen und -züchter werden sich in den unmittelbar bevorstehenden Jahren weiterhin auf solche - allerdings dann ansteigende - Toleranzwerte ihrer künftigen Würfe berufen können. Auf den ersten Blick mag deshalb die zunehmende Popularisierung der Rasse mit dem entsprechenden Anstieg der Nachwuchsproduktion als schöner Erfolg bei der Erhaltung des Azawakhs unabhängig von seinem bedrohten Weiterleben in den Ursprungsgebieten begriffen werden.
Ist diese Zukunftshoffnung berechtigt?
Zu einem gegenteiligen Befund führt die Beschäftigung mit den genetischen Langzeitperspektiven des Zuchtbestands. Ihre Bewertung ist bei einer minoritären Rassepopulation mit zahlenmäßig sehr kleinen importierten Gründergruppen und der sich daraus ergebenden In-, Eng- und Linienzucht unerlässlich. Als Problemstellung legen wir die wissenschaftliche Vorgabe zugrunde, die für die erbgesundheitliche Nachhaltigkeit einer Rasse den Mindestanteil von etwa 200 untereinander nicht verwandten Exemplaren ansetzt. Ihre Zahl bewegt sich in Europa und Übersee in einer Größenordnung unter 50. Die Ergebnisse dieser Studie lassen ein schnelles, sich selbst generierendes Absinken befürchten. Inzwischen orientiert sich auch der Verband für das Deutsche Hundewesen in seiner Aufnahmeordnung von 2009 (VDH-AO) an den Erkenntnissen der Populationsgenetik. Danach kann ein Rassezuchtverein nur dann die vorläufige Mitgliedschaft im deutschen FCI- Dachverband beantragen, wenn er die Existenz von zehn zur Zucht geeigneten Hündinnen und von vier zuchtverwendungsfähigen Rüden notariell nachweist. Entscheidend dabei: "Die 14 Hunde dürfen keine gleichen Ahnen in der 1. und 2. Generation aufweisen" (§ 9). Die ordentliche Mitgliedschaft wird erst gewährt, wenn dieses Zuchtpotential zwischenzeitlich "deutlich erhöht worden ist" und alle vierzehn Hündinnen und Rüden "zu einem möglichst hohen Anteil eingesetzt worden" und dabei "entsprechend gesunde Würfe gefallen" sind (§ 12). Auch der VDH setzt damit ein Warnzeichen gegen Engzucht und Vererberdominanz besonders erfolgreicher Show-Rüden.
Wir haben die Würfe des Jahrs 2011 über die IK- und AVK-Indikatoren hinaus in Bezug auf ihre Bindung an die "Gründerväter" der europäischen Rassepopulation in den Blick genommen. Im Vordergrund stehen die beiden Vererber Gefell de Garde-Epee (1990) und Firhoun Kel Tarbanassen (1991). Sie wurden zunächst unter dem Aspekt der Deckrüden-Verfügbarkeit und sodann angesichts ihrer vorzüglichen Konformation als "Popular Sires" eingesetzt. Gefell fand mittels Gefriersperma 2010 ein weiteres Mal Eingang in den Bestand.
Der eigene genetische Hintergrund der beiden Rüden ist für das Weitere von zusätzlichem Interesse:
Im Folgenden wird dargestellt, in welchen Azawakhwürfen des Zuchtjahrs 2011 und in welchem Grad das Erbgut von Firhoun/Gefell und ihrer Geschwister vertreten ist. Die Angaben sind nach den väterlichen und mütterlichen Ahnen der Würfe differenziert.
91,66 Prozent der Würfe haben väterlicherseits Firhoun-Ahnen. Lediglich Wurf Nr.10 und 23 gehen auf der väterlichen Seite nicht auf Firhoun zurück, dafür ist letzterer im Wurf Nr.10 mütterlicherseits vier Mal vertreten. Bei der Rückführung auf Gefell und Wurfgeschwister verbleiben nur die Würfe Nr. 5 und 23 (Importrüde) ohne diesen Hintergrund, es ergibt sich ebenfalls ein Anteil von 91,66 Prozent.
Firhoun und Gefell/Greboun sind bei 75 bzw. 62,5 Prozent der Mütter in deren Ahnentafeln vertreten. Die Höchstwerte liegen bei den Würfen Nr. 5 und 10, mit jeweils vier und Nr.13 mit drei Firhoun-Einträgen sowie bei den Würfen Nr. 6 und 8 mit dreimaliger Gefell-Präsenz.
Die Würfe Nr. 2, 3,4, 9 und 12 stammen von Import-Hündinnen ab.
Das Ausmaß der sich anbahnenden Selbstblockade der Azawakhzucht wird durch das Gesamtbild des elterlichen Hintergrunds noch deutlicher:
Fazit:
2011 gab es keinen Wurf in Italien, Deutschland, Frankreich, Polen, Russland, England, Norwegen und der Schweiz, in dem Firhoun und/oder Gefell/Greboun bzw. deren Wurfgeschwister nicht vertreten sind.
Nun wird gefragt werden, inwieweit denn dieser Befund für die Weiterentwicklung der Rasse Azawakh als unzuträglich, ja bedrohlich anzusehen ist. Gilt nicht seit anderthalb Jahrhunderten die "Linienzucht" mit möglichst vielen Champions in der Ahnentafel als der Königsweg zu erfolgreichen Züchter- und Ausstellerkarrieren? Und was soll's, wenn sich dabei sogar die Inzucht-Parameter - wie eingangs aufgeführt - weiterhin im Bereich des derzeit Akzeptablen bewegen?
Die Antwort findet sich bei der Minderzahl der Zuchtpopulation, ihrer beengten Gründungsbasis und in einer zeitnahen Zukunftsprojektion. Zu beachten ist dabei der Umstand, dass unsere anglo-europäischen Rassen im 19. und frühen 20.Jahrhundert aus einem großen Reservoir von Gebrauchshunden und historischen Landschlägen entstanden und von einer Vielzahl weitflächig verteilter Züchter produziert worden sind. Die ursprünglich breite genetische Basis dieser Rassen ist erst in einem längeren Zeitverlauf als Folge rigider "Standards" und des Ausstellungswesens in einem Ausmaß eingeschränkt worden, das zu den zunehmend auftretenden morphologischen Defekten und Erbkrankheiten bis hin zu sog. Qualzuchten geführt hat. Im Vergleich ist die Situation von importierten exotischen Rassen mit minimalen europäischen Gründungsgruppen und wenigen Züchtern erheblich prekärer.
Praxisbezogen gesagt:
Die 2011 geborenen Azawakhs dürften bei ihrem Zuchteinsatz in ein paar Jahren europaweit kaum noch Vermehrungspartner finden, die nicht ebenso wie sie selbst kompakte Firhoun/Gefell - Abstammungen haben. Die daraus folgenden Paarungsresultate werden die in obigem Diagramm angezeigten Abstammungsverengungen potenzieren und damit auch zur kontinuierlichen Veränderung der heutigen IK- und AVK-Werte in Richtung auf zuchtpolitisch nicht mehr vertretbare Grenzen führen. Azawakhzüchterinnen und -züchter sollten diesen Prozess nicht nach dem Motto "Nach mir die Sintflut" verdrängen. Ein populationsgenetisch negativer Zustand kann hier ungleich schneller als bei den historischen Rassen des europäischen Hundewesens zum Tragen kommen.
Ein Vergleich mit den Befunden des Jahres 2010 wurde zur Kontrolle herangezogen. Für 28 Würfe waren die Abstammungsdaten zu ermitteln. Es gibt - wie vermutlich auch 2011 - einige "entlegene" Würfe, die mit den uns zugänglichen Quellen nicht dokumentierbar waren. Auf das Ergebnis dürften sie ohne substanziellen Einfluss sein.
(Wurf Nr.29 ist virtuell und dient der graphischen Darstellung.)
Wurf Nr.1 entstammt einem Bruder/ Schwester - Inzest mit ENCI- Papieren (!), Wurf Nr. 28 ist eine direkte Gefell - Nachzucht unter Einsatz von Gefriersperma.
Die Import-Würfe Nr. 5 und 18 weisen die Optimalwerte von 0,00 (IK) und 100 (AVK) auf.
(Wurf Nr. 29 ist wie oben fiktiv.)
Lediglich Wurf Nr. 5 (Deutschland) ist von Firhoun/Gefell-Ahnen frei. Die beiden Abkömmlinge stehen jedoch der europäischen Zucht nicht mehr zur Verfügung.
Vergleichsrelevant sind die folgenden Feststellungen: 2010 finden sich Extremwerte des Firhoun/Gefell-Faktors bei acht Würfen: Nr. 13 und 15 (fünf Mal Firhoun), Nr.1 und 21 (vier Mal Firhoun) sowie Nr. 8, 9, 13 und 14 (vier Mal Gefell). 2011 ist der Spitzenanteil von "Popular Sires" auf bis zu sieben Nennungen in einem Wurf gestiegen. Die Anzahl der Würfe oberhalb der Vierermarke hat sich von zwei (2010 bei insgesamt 28) auf sieben (unter nur 24 Würfen 2011) erhöht.
Die gelegentliche Verwendung einer Importhündin kann Ahnenverlust nicht wettmachen, wenn im Pedigree eines Wurfs Popular Sires und/oder inzestgezüchtete Vorfahren enthalten sind. Die in solchen Fällen mitunter zu findende Bezeicnung "desert bred" im Sinn einer COO (Country of Origin) - Qualifizierung verstellt die Sicht auf die Problematik.
Die Azawakhzucht bewegt sich heute erneut auf jenen "genetischen Flaschenhals" zu, der von Elisabeth Naumann bereits für die Jahre 1975 bis 2000 aufgezeigt worden ist.
(Siehe: Genetische Verarmung beim Azawakh?, veröffentlicht u.a. in www.arbeitskreis-azawakh.com).
Als Erinnerung an den damaligen Befund:
Ausbildung des genetischen Flaschenhalses am Beispiel einer Azawakh-Linienzucht im vergangenen Jahrhundert:
Öffnung des genetischen Flaschenhalses durch Einsatz von Ursprungslandimporten, hier am Beispiel einer deutschen Azawakhzucht:
Die für beide Diagramme verwendeten IK- und AVK-Werte stützten sich auf 4 Generationen.
Der in den 1990er Jahren einsetzende Zugang von (allerdings überwiegend weiblichen) Azawakhwelpen aus dem Sahel führte auch bei anderen, häufig neu begründeten Zuchtstätten in Europa, den USA und Lateinamerika zu einer Rehabilitierung des Gen-Pools. Die Auswirkungen auf den Rassebestand insgesamt waren durchaus bemerkbar. Dies betraf zum einen Vitalität, Sozialverhalten und Leistung (vgl. u.a. Elisabeth Naumann, Wie sähe das Deutsche Windhundzuchtbuch Band XLII (2006/2007) aus, wenn es keine Azawakh-Importe gäbe? In: www.arbeitskreis-azawakh.com, 2010).
Zu beobachten war die damals erreichte genetische Diversifizierung auch im Bereich des Ausstellungsbetriebs (vgl. Werner Röder, Wie steht's um die Rasse Azawakh? Beobachtungen und Überlegungen anlässlich der Jahresausstellung 2010. In: Azawakh Jahresjournal 2010, hrsg. von Gudrun Büxe jun. und Dennis Pomrehn, 2011).
Dieser rund um die Jahrtausendwende vor allem seitens der Association Burkinabe Idi du Sahel (ABIS) bewirkte Erneuerungsprozess durch COO-Importe erscheint mit Blick auf die gegenwärtig sich wieder abzeichnende populationsgenetische Krisenlage nach wie vor als das Mittel der Wahl, wenn die Abstammungsenge unter künftigen Zuchtgenerationen gemindert und daneben züchterische Kompetenzzentren für ein erbgesundheitlich ungefährdetes Fortleben der Rasse auf längere Sicht ermöglicht werden sollen.
Die Chancen hierfür stehen derzeit nicht zum Besten:
Letzte Welpenimporte sind 2007 aus Mali und Niger nach Europa gelangt. Als Folge einer bürokratisch überzogenen und gegenüber Drittweltländern strangulierenden Einfuhrrichtlinie der EU-Kommission war dies nur noch über den aufwändigen Zwischenaufenthalt in den Vereinigten Staaten möglich, wo auch die Mehrzahl dieser Importe verblieben ist. Die eigentliche Barriere bilden die seit vier Jahren für Fremde bestehenden "No-Go-Gebiete" in der Sahara- und Sahelregion, die von islamistischen Bewegungen, namentlich der Al Kaida des Maghreb, durch Geiselnahmen und Mordaktionen erzwungen worden sind. Die Ursprungsgebiete der Rasse sind bis auf weiteres für Ausländer nicht erreichbar. Ob und wann diese Savannen und Halbwüsten - wie regelmäßig zwischen 1992 und 2007 - für "Azawakh-Expeditionen" wieder zugänglich sein werden, ist noch nicht absehbar. Fakt dagegen ist, dass in fünf Jahren die letzten COO-Hündinnen aus der Zucht fallen und die wenigen in Europa verstreuten Importrüden selbst bei einem gezielten Einsatz keinen quantitativ nachhaltigen Einfluss ausüben können.
Hinzu kommt, dass der ursprüngliche Rassetypus gegenüber bereits homozygot durchgeformten Vertretern mittlerweilen geringere Erfolgsperspektiven bei Ausstellungsrichtern hat. Das vor allem bei neuen Azawakh-Liebhabern aufblühende Show-Hobby führt nicht zuletzt dazu, dass Züchterinnen und Züchter den Chancen dieses Markts nachgeben und sich an den entsprechenden Bedürfnissen künftiger Abnehmer orientieren. Deren Motive bei der Anschaffung eines Azawakhs haben in der Regel wenig mit der Absicht und den Fähigkeiten zu tun, die originären Eigenschaften der Rasse zu erkennen, sie bestmöglich zu erhalten und sie weiterzugeben. Marya Morales vom Azawakh Club of America hat sich zu Recht überlegt: "Why the Azawakh is Not for Everyone - Up until now, the Azawakh has remained safely and securely tucked away as a rare breed… With AKC recognition on the horizon and growing interest from pet owners, it is those of us with a true passion and dedication to the breed that will have to help set out a path for the future of the Azawakh …" (www.azcablog.blogspot.com). Der gegenwärtige Stand der Zucht erfordert es, mit dem Gen-Pool des hiesigen Bestands diszipliniert und zielgerichtet umzugehen. Der Ausgang des Versuchs zur nachhaltigen Bewahrung einer Gebrauchshunderasse außerhalb ihrer angestammten Habitate ist offen.