“Junge Welt”, 10.07.2013 (Schwerpunktseite)
US-Notenbankchef löste mit wenigen Worten Krisenschub aus. Das offenbart die starke Abhängigkeit vieler Schwellenländer von globalen Finanzströmen
Das alte Lied bleibt aktuell: »Der Dollar ist unsere Währung, aber euer Problem«, witzelte US-Finanzminister John Connally in den 70er Jahren. Und er brachte die globalen Folgewirkungen amerikanischer Geldpolitik auf den Punkt. Auch nach dem jüngsten Krisenschub hat dieser Satz nichts von seiner Aktualität verloren. Am 19. Juni stürzte US-Notenbankchef Ben Bernanke mit wenigen Sätzen Aktien- und Rentenmärkte in Chaos. Bernanke mußte nur ankündigen, die als »quantitative Lockerung« (Quantitative Easing – QE) bezeichnete Gelddruckerei in den kommenden Monaten reduzieren zu wollen, mit der sein Institut die Konjunktur zu stimulieren versucht.
Es ist die dritte »Lockerung« (QE3), die nach Ausbruch der Finanzkrise in 2007 aufgelegt wurde. Der Unterschied zu den vorhergehenden Aufkaufprogrammen von Anleihen besteht darin, daß diesmal von der Notenbank (Fed) kein zeitlicher Rahmen für den Ausstieg festgelegt worden war. Die allmonatlichen Aufkäufe in Höhe 85 Milliarden US-Dollar – die zusätzlicher Geldschöpfung im gleichen Umfang entsprechen – sollten bis zur substantiellen Verbesserung der Lage auf dem US-Arbeitsmarkt fortgesetzt werden. Sie dienen somit dazu, durch eine Erhöhung der Geldmenge die Kreditvergabe und Investitionstätigkeit anzuregen um die Konjunktur samt Arbeitsmarkt zu beleben.
Dabei führte diese historisch einmalige Phase expansiver Geldpolitik nicht nur zur kreditgetriebenen »Belebung« der US-Konjunktur, sie hat auch den Boom in vielen Schwellenländern maßgeblich befeuert. Durch ein Zinsniveau nahe null Prozent in den USA flossen Unmengen von Dollar in die Semiperipherie – in der noch bessere Renditen möglich waren. Im Endeffekt entwickelte sich die letzten vier Jahre ein gigantischer Carry-Trade, ein Währungshandel, bei dem rund 3,9 Billionen US-Dollar flossen. Dies ermöglichte in vielen Schwellenländern eine enorme Ausweitung staatlicher wie privater Kreditaufnahme – ließ dabei gigantische Schuldenblasen entstehen und wachsen. Somit führte die Bekämpfung der Folgen jener Spekulationsexzesse die 2007 zum Crash des US-Immobilienmarktes führten geradewegs zur Ausbildung neuer Blasen in den Schwellenländern. Verhängnisvoll daran ist, daß es sich überwiegend um »heißes Geld«, um kurzfristige Kredite handelt, die rasch refinanzieren werden müssen. Dieses Kapital kann folglich auch sehr schnell wieder abgezogen werden.
Derartige Geldabflüsse begannen sich bereits zu beschleunigen, noch ehe Bernanke die folgenschweren Sätze gesagt hatte. In dem Monatszeitraum vor dem 19. Juni seien aus den Aktien- und Anleihefonds, die in Schwellenländern investiert hatten, rund 20 Milliarden US-Dollar abgezogen worden, meldete die Bank of America Merrill Lynch. In der zweiten Junihälfte ging es dann schnell: Zwischen dem 10. und dem 26. Juni verflüchtigten sich allein aus den Anleihefonds der Schwellenländer rund 5,5 Milliarden US-Dollar. Dies sei der höchste wöchentliche »Abfluß, der jemals verzeichnet wurde«, erklärte ein Analyst der US-Großbank Morgan Stanley gegenüber der Website Business Insider. Insgesamt seien seit Bernankes Rede »aus Schwellenländer-Aktienfonds 18 Milliarden Dollar und aus Anleihefonds sieben Milliarden abgezogen« worden, berichtete die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) am 27. Juni.
Die betroffenen Staaten seien nun »auf sich selbst gestellt«, kommentierte das Wall Street Journal (WSJ): »Investoren, die ihr Geld in Schwellenländern angelegt haben, sollten ihre Anlagen genau überdenken.«
Im Endeffekt beschleunigte Bernanke eine Umleitung der globalen Kapitalströme, die in Antizipation der US-Zinswende wieder zurück in die Zentren des kapitalistischen Weltsystems strömten. Länder wie Brasilien, wo FIFA-Weltcup und Olympia einen Bauboom befeuert haben, hätten nun das Nachsehen, kommentierte die NZZ: »Höhere Zinsen in den USA bedeuten unter anderem, daß mehr Kapital weg von Brasilien in die USA zurückfließt.« Selbst Weltbank-Präsident Jim Yong Kim hatte am 20. Juni laut Handelsblatt »energische Maßnahmen« zur »Versorgung der Schwellenländern mit bezahlbaren Krediten« gefordert.
Derzeit sitzen viele Schwellenländer in der Schuldenfalle: Aufstrebende Volkswirtschaften, die hochgradig von der Finanzierung auf den Weltfinanzmärkten abhängig sind, sehen sich mit drohenden Kreditengpässen konfrontiert. Die aktuellen Kapitalabflüsse treiben die Zinsen hoch. Auf dem brasilianischen Anleihemarkt etwa fände ein »Massaker« statt, bei dem die Zinslast bei Staatsanleihen um 26 Prozent seit Anfang Mai angestiegen sei, kommentierte Business Insider. Zusätzlich werteten die Währungen der meisten Schwellenländer gegenüber dem US-Dollar rasch ab, was den Schuldendienst zusätzlich verteuert. Laut WSJ habe die »Anlageklasse« der Schwellenländerwährungen bereits einen durchschnittlichen Wertverlust von 3,5 Prozent gegenüber dem Dollar hinnehmen müssen. Die Kapitalflucht zeigte sich auch in einem Einbruch der dortigen Aktienmärkte. Der summierte sich laut dem Institute of International Finance im Schnitt auf 15 Prozent seit dem 22. Mai. Zum Vergleich: In den »Industrieländern« wurden Abschläge von nur 6,5 Prozent verzeichnet.
Bezeichnend für die totale Abhängigkeit des Gesamtsystems von immer neuen Liquiditätsspritzen ist die Methode, mit der die Fed für eine vorübergehende Beruhigung auf den Finanzmärkten sorgte: Nachdem auch US-Anleihen unter Druck gerieten, ließ die Notenbank durchblicken, daß sie die Gelddruckerei vorerst nicht einstellen werde. Am 27. Juni erklärte Bernanke-Intimus Bill Dudley, Chef der New Yorker Fed, daß die Quantitativen Lockerungen nicht nur künftig fortgeführt, sondern eventuell noch ausgeweitet werden könnten.
Hintergrund: Grenzen des Wachstums der Semiperipherie
Die Äußerungen des US-Notenbankchefs waren nur der sprichwörtliche Tropfen, der das Schuldenfaß in vielen Schwellenländern zum Überlaufen brachte. Das auf Kreditwachstum, arbeitsintensiver Exportindustrie und Rohstoffausfuhren beruhende Wirtschaftsmodell der meisten dieser Staaten stößt inzwischen an seine Grenzen. Das belegt die rasch abnehmende Konjunkturdynamik in den Regionen.
Laut Wirtschaftsforschungsagentur Capital Economics hat sich das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den Schwellenländern Asiens, Lateinamerikas und Europas im ersten Quartal auf nur noch vier Prozent verlangsamt. Auch im April deuteten Frühindikatoren auf eine weitere Abkühlung hin, so daß die betreffenden Volkswirtschaften »im langsamsten Tempo seit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise« wuchsen. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahrzehnt verzeichneten Schwellenländer ein durchschnittliches jährliches BIP-Wachstum von 6,4 Prozent. Diese Verlangsamung würde allen Hoffnungen einen Dämpfer versetzen, die glaubten, diese Ökonomien würden als eine »Antriebsmaschine des globalen Wachstums« fungieren, kommentierte der US-Fernsehsender CNBC.
Der Ökonom Tyler Cowen sieht in einem Gastbeitrag für die New York Times die aufstrebenden Volkswirtschaften der Semiperipherie gar »auf eine Wand« unüberwindlicher struktureller Hindernisse aufprallen, die die »Ära meteorhaften Wirtschaftswachstums« dort beenden würde. Neben den immer größeren sozioökonomischen Ungleichheiten zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, die ein Aufholen zunehmend illusionär machten, benennt Cowen vor allem die zunehmenden Tendenzen zur Automatisierung in der Warenproduktion als einen zentralen Faktor. Maschinen könnten »immer mehr Funktionen in der Produktion, und manchmal in den Dienstleistungen« übernehmen, was die Konkurrenz vermittels »niedriger Löhne immer schwieriger« machte. Wieso sollten Unternehmer dann nicht »in Arbeitskräfte im Heimatland« investieren?
Zumal – und das erwählt Cowen nicht – USA wie EU die Krise dazu nutzten, sich dem Lohnniveau und den Arbeitsbedingungen der Schwellenländer anzunähern. In den Vereinigten Staaten führte das zu einem abermaligen Prekarisierungsschub, bei dem viele gutbezahlte Mittelklasse-Jobs in prekäre Beschäftigungsverhältnisse transformiert wurden (siehe jW vom 4. Juni). Laut dem Nachrichtendienst Stratfor sank das inflationsbereinigte Durchschnittseinkommen im Jahr von Haushalten in den USA zwischen 2000 und 2011 um 4000 US-Dollar auf 49000 US-Dollar.
Noch drastischer fiel der Lohnkahlschlag aus, den Deutschland im Rahmen seines Spardiktats der südlichen Peripherie der Euro-Zone oktroyiert hatte. Hier hat sich Berlin förmlich seine eigenen Schwellenländer herangezüchtet, die inzwischen eine krisenbedingte Kontraktion des Lohnniveaus von 21 Prozent (Spanien) bis 37 Prozent (Griechenland) hinnehmen mußten. Deutsche Unternehmen würden nun verstärkt Südeuropa »als Beschaffungsmarkt« wiederentdecken, jubelte das Manager Magazin: »Löhne und Produktionskosten sind stark gesunken, die Wettbewerbsfähigkeit steigt.« Vor der Krise hätte Südeuropa nicht mit »den Asiaten« konkurrieren können, erklärte ein deutscher Mittelständler, doch nun »bekommen wir Angebote, die preislich mithalten können«
Am Finanztropf
Wen trifft der neue Krisenschub?
Investmentbanken haben mit der Suche nach dem »schwächsten Glied« in der Kette kreditabhängiger Schwellenländer begonnen. In einer Mitte Juni publizierten Studie (What If The Tide Goes Out?) benennt der US-Riese Morgan Stanley fünf Volkswirtschaften, die von einem Versiegen der Liquiditätswelle besonders hart getroffen würden: Brasilien, Mexiko, Südafrika, Türkei und die Ukraine.
Als »grenzwertig« gefährdet werden Argentinien, Ungarn, Indonesien und Polen bezeichnet. Die US-Bank nannte auch aufstrebende Volkswirtschaften, die kaum von externen Finanzquellen abhängig seien: China, Israel, Peru und Rußland.
Entscheidend sei das Wachstum ausländischer Portfolio-Investitionen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den vergangenen Jahren, sowie die daraus resultierende Relation zwischen kurzfristigen ausländischen Schulden und dem BIP sowie den Devisenreserven des betroffenen Schwellenlandes. Zusätzlich berücksichtigte Morgan Stanley die etwaige Ausbildung eines »Doppeldefizits« im Staatshaushalt und in der Leistungsbilanz sowie das Verhältnis zwischen Kreditvolumen und Bankguthaben.
Grundsätzlich gilt: Je stürmischer die Zuflüsse an Kapital in den vergangenen Jahren ausfielen, je höher sich die dadurch aufgebauten Schuldenberge in Relation zum BIP auftürmen, und je größer das Leistungsbilanzdefizit des Landes, desto anfälliger ist die jeweilige Volkswirtschaft gegenüber plötzlichen Kapitalabflüssen.
Das Institute of International Finance (IIF) nannte wiederum die Türkei, Polen, Rumänien und Marokko als besonders anfällig, da sie einen »großen externen Finanzierungsbedarf« aufwiesen. Wenn die auswärtigen Finanzquellen versiegen, könnten die Kreditnehmer in diesen Staaten sich sehr schnell »in Liquiditäts- und Solvenzschwierigkeiten« wiederfinden.