Auf nichts zurückgreifen zu können...

Immer nach vorne blicken, hoffnungsfroh in die Zukunft lugen; vorwärts immer, rückwärts nimmer. Wer in der Vergangenheit lebt, den bestraft das Leben; jetzt müsse man doch das in Angriff nehmen, was vor einem liegt - das sind oft vernommene Binsenweisheiten unserer modernen Gesellschaft. Eine aufgeblähte Zukunfts- und Fortschrittsgläubigkeit, die fast schon hegelianischen von der steten Besserung der Welt kündet, weswegen ins Vorne zu blicken, nicht ins Hinten zu starren ist. Dies ist die zeitgemäße Denkart der think positive-Unkultur, eines Wirtschaftszweiges der guten Laune, der Zuversicht, eines fast schon triebhaften Optimismus', der das Leben zum freien Markt uneingeschränkter Möglichkeiten verklärt.

Die Vergangenheit, sie ist in diesem Weltbild zum Pessimismus verkommen; wer in die Zukunft lugt gilt dagegen als Optimist. Vergangenheit ist vergangen, vergessen, nicht mehr relevant - Zukunft ist das unentdeckte Land, ist Mut und positive Denkrichtung. Wer zurückblickt haftet an negativen Gefühlen, ist Miesmacher, Schwarzmaler, Skeptiker; wer zurückblickt, wer Rückschau hält, gilt schnell als Schwärmer, als nicht mit beiden Beinen auf dem Boden. Der Zukunft gehört die Zukunft, die Vergangenheit soll endgültig, requiescat in pace, der Vergangenheit angehören.

Was aber der Mensch ist, wenn er keine Geschichte hat, erzählt Jonathan Overfeld. Vor fünf Jahren saß er auf einer Parkbank in Hamburg und wusste nichts mehr über sich. Er wusste weder Namen noch Herkunft; er wusste auch nicht, was er in seinem Leben je erlebt hatte. Overfeld erklärt den Zustand folgendermaßen: "Es gibt auch keine Zukunft. Wenn Sie keine Vergangenheit haben, dann gibt es auch keine Zukunft, und die Zukunft wird in der Gegenwart geplant. Das geht nicht. Ich kann auf nichts zurückgreifen, auf keine Informationen, auf keine Emotionen, um eine Zukunft zu planen. Das geht nicht." Für den Menschen, so wird am Beispiel Overfelds sichtbar, ist die Ausrichtung auf die Zukunft letztlich Augenwischerei, weil alles, was man zukünftig plant, eine Basis in der Vergangenheit besitzt; das Arsenal an Erfahrungen und Erlebtem macht die Zukunft erst planbar, erst vorstellbar - ohne Erfahrungsschatz keine Zukunft, in die man mit der notwendigen Gelassenheit treten könnte.

Ohne etwas von seiner Vergangenheit zu wissen, tritt der Mensch in ein Vakuum; Overfeld erläutert, dass man "absolut hilflos" wäre, und dass es für diese Hilflosigkeit "kein deutsches Wort" gäbe. "Man fühlt diese Leere, und sie verursacht Panik, bis hin zu Todesängsten, wenn da nichts mehr ist." Die verpönte Vergangenheit ist demnach nicht nur irgendwie Vergangenes, etwas von gestern, sie ist zentraler Bestandteil des menschlichen Daseins im Jetzt, in der Gegenwärtigkeit. Wer seine Vergangenheit vergisst, der stolpert in ein Loch - wer sie bewusst vernachlässigt, der kommt aus dem Loch, in das er sich begab, nicht mehr heraus. Ohne Vergangenheit zu sein, heißt in letzter Konsequenz vorallem, ohne Gegenwart zu leben, keine Zukunft zu besitzen.

Eine geschichtsvergessene Gegenwart, die Geschichte zwar ritualisiert hat in ihrem unausgegorenen Wahn zu gedenken, ohne jedoch in Memento mori-Stimmung verfallen zu wollen, die also daraus keine Lehren ziehen will; eine Gegenwart, die ihren Menschen lehrt, dass es sinnvoll sei, stets unverzagt und zuversichtlich in die Zukunft zu blicken, statt sich auch mit dem auseinanderzusetzen, was vergangen ist: eine solche Gegenwart kann von einem Szenario, wie es Overfeld widerfuhr, nur lernen. Der Mensch und die Gesellschaft - als Verbund von Menschen - sind nichts, wenn sie keine Vergangenheit besitzen. Der Schlüssel zum Jetzt und zum Dann liegt dort begraben. Zukunft ist nur denkbar, wenn ein Repertoire an Eindrücken und Erfahrungen in der Vergangenheit gehortet wurde. Keine Vergangenheit zu haben, das stürzt Einzelpersonen wie Gesellschaften in einen Strudel der Leere, erlaubt kein differenziertes Zukunftsbild, läßt Handlungsweisen in der Gegenwart nicht hinterfragen und mit dem Erfahrungsschatz in Einklang bringen. Keine Rückschau zu halten läßt Menschen blöde optimistisch grinsend in eine unplanbare Zukunft stolpern.

Overfeld spricht von Todesängsten, die aufkommen, wenn man plötzlich davon Notiz nimmt, seiner Vergangenheit nicht mehr gedenken zu können, weil sie einem entfallen ist - er selbst erinnert sich langsam bruchstückhaft an das, was ihm widerfuhr. Overfeld war ein missbrauchtes Heimkind, wurde schon in jungen Jahren vergewaltigt. Obwohl ihm diese tragischen Tatsachen schrittweise gewahr werden, stellen sich nun keine Todesängste ein - lapidar, vielleicht zynisch gesagt: eine schlechte Vergangenheit scheint für das menschliche Individuum besser verkraftbar zu sein, als gar keine zu haben. Immer nach vorne zu blicken, eine unliebsame Vergangenheit vergessen machen: das ist kein Umgang mit dem, was geschah, es ist Flucht, ist letztlich Entfremdung von sich selbst.

Selbstverständlich blicke man nach vorne! Der Mensch kann ohne Zukunftsaussichten ebensowenig leben, wie ohne Vergangenheit. Aber man berücksichtige das, was die Vergangenheit birgt, um für die Zukunft gegenwärtig werden zu können...


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