Mein erster Gedanke war: Wie lange wollen die die Leute hier festhalten, wenn sie Kinderbetreuung anbieten? Da habe ich noch gelacht. Gute Laune gehabt. Und dann zog ich das Wartemerkchen. Ich war die 99. Keine besonders hohe Zahl, ich weiß, sogar im römischen Zahlensystem gibt es noch einige danach. Aber während ich das Merkchen gezogen habe, wurde erst die Nummer 24 bedient und das um 8:45 Uhr. Nicht vorm Monatsende, nicht am Monatsanfang, nicht vor und nach Feiertagen, nicht am Montag und nicht am Freitag. An der Stelle wünschte ich mir die anderen 9 oder 10 Leute aus der Schlange bei der Post, von denen einige sehr unruhig bis hin zu unhöflich waren, weil nur zwei Schalter offen waren. Zwei Schalter gab es hier auch, nur halt für das 8fache davon. Aber hier geht es ja um Existenzen, nicht um Pakete. Um Arbeitslose, nicht um Menschen. Und die sollten ja bekanntlich Zeit haben, den ganzen Tag.
Ich frage mich, ob ich besonders sensibel bin oder nur überempfindlich. Vielleicht liegt es auch an dem Mangel an Erfahrung, weil, was mir im Nachhinein bewusst geworden ist, in 5 Jahren, in denen ich ein „Kunde“ bin, bin ich jetzt ein Jahr davon berufstätig gewesen. Und in diesem einen Jahr sah mich das Jobcenter schon zwei Mal. Davor die Zeit nur ein Mal. Vielleicht ist das ein Zeitraum, in dem sich einfach keine Gewöhnung einstellt. Oder Anpassung? Ich wollte einen bestimmten von den „Kundenbetreuern“ sprechen. Und da fiel es mir auch auf, dass ich das mal bei meinem ersten Besuch als Vorzimmer zur Hölle bezeichnet habe. Weiße kahle Wände und ganz viele Seelen, die fertig waren mit sich selbst und mit allem andern. Teilweise musste man feststellen, dass weder Reaktion noch Bewegung wie gewöhnlich auftraten. Als ob auch die Luft apathisch werden würde. Ja, so hatte ich es in Erinnerung und wohl eine Zeit lang erfolgreich verdrängt. Zwischendurch hörte man irgendwoher ein Kind weinen, ansonsten Stillstand.
Es musste bei den zwei Schaltern bleiben, mehr Schalter gab es auch nicht. Und die aufgerufenen Zahlen rückten nur apathisch vor. Nach einer halben Stunde wird die 28 bedient. Irgendwann gestehe ich mir ein, dass ich wohl nicht rechtzeitig ins Büro kommen werde und das obwohl ich mich an einem Ort der Arbeitsförderung und nicht der Vorenthaltung befunden habe. Nach der Meldung im Büro rückten die Zahlen nicht schneller vor. Um 10 Uhr fragte ich mich, als die 40 oder 45 dran war, wann wohl die Zeit der 99 gekommen sein wird. Ich wünschte mir, ich hätte mir was zu tun mitgenommen. Blöd, dass meine Hände das Stricken ablehnen. So blieb mir nur die Menschen um mich herum zu beobachten. Eine Stimmung nur schwer zu beschreiben. Die Luft blieb weg und trotzdem war die Atmung ganz flach. Ich war aufgeregt und blieb ruhig, so etwas hatte ich noch nicht erlebt. Einschließlich der Frau, der am Schalter irgendetwas erklärt worden ist, ich weiß es nicht mehr genau. Trotz der Ruhe war ich überfordert, ob ich solche Gespräche überhaupt mit anhören darf, habe ich mich gefragt. Dann ist sie fertig, bedankt sich für die Hilfe und dreht sich um und fügt ein „Du blöde Kuh“ hinzu. So was habe ich schon oftmals gedacht und nie gesehen. Und dann noch mit dieser schamlosen, offenkundigen Art. Das erfordert nicht nur Mut, sondern auch Unverschämtheit. Ob es berechtigt war oder nicht, kann ich nicht bestätigen, grundlos, wie ich später erfahren würde, war es nicht.
Irgendwann kam mir die Idee, dass ich vielleicht was essen müsste, was trinken. Bevor ich dann einen Plan umsetzen konnte, wurde mir ein Wartemerkchen angeboten. Nicht ungewöhnlich für mich, ich erlebe immer wieder, dass man mir nicht immer alles zutraut. Aber ich hatte ja schon eins, die 99, wie gesagt. Sie selbst hatte eine 55 anzubieten. Ich war verwirrt, also fragte ich nach, ob sie denn nichts vor hätte. Es stellte sich heraus, dass sie 2 hatte, also überließ sie mir die 55. Verstehen konnte ich es immer noch nicht. Nett war es trotzdem, aber verstehen konnte ich es trotzdem nicht. Dann lohnte es sich nicht mehr zu trinken, zu essen, warten war um so sinnvoller. Also wartete ich nicht nur, sondern beobachtete auch weiter. Die Kinder, die umherlaufen, die Menschen, die auf den Stühlen hängen, die Menschen, die sich unterhalten. So sah ich auch, dass die Frau, die mir eben noch die 55 überlassen hatte, sich mit einer anderen unterhalten hatte, die wohl vorher auch eine höhere Zahl hatte, sie aber niedriger tauschen konnte. Also war es für mich wohl kein Zufall. Ich verstehe das wirklich nicht. Das war nicht das einzige Mal. Hier entsteht wohl eine Tauschbörse. Und an der Stelle fiel mir auch ein, dass ich, als ich das Gebäude betrat, auch schon eine Wartemarke angeboten bekommen habe. Und da habe ich noch gedacht, dass man mir nur behilflich sein wollte, schließlich war zu dem Zeitpunkt noch zwischen mir und den Wartemarken eine lange Treppe. Geld musste ich keins bezahlen, gesehen habe ich auch keins. Aber deshalb frage ich mich nicht minder, wozu dann dieser Handel und Tausch gut sein soll. So oft, wie ich das mitangesehen habe, muss unterstellt werden, dass sich dieses System selbst im Wege steht. Normalerweise sollte man davon ausgehen, wenn gesehen wird, dass viele Wartemarken gezogen werden, man viele Sachbearbeiter benötigt, um die Warteschlange schnell aufgearbeitet zu bekommen. Aber wenn man nach einer Weile feststellen würde, dass die Wartemarken durchschnittlich zwei Mal vergeben werden, dann sind so viele Mitarbeiter gar nicht mehr nötig, wodurch man wieder meinen könnte, dass es notwendiger ist immer wieder zu kommen und vielleicht mehrere Marken zu ziehen. Und trotzdem wünschte ich mir, dass dies das einzig Seltsame bis hin zu für mich Unlogische hier gewesen wäre.
Meine Zahl. Kaum zu glauben, ich war tatsächlich schon an der Reihe und schon um 10:30 Uhr. Neben mir am Schalter wurde die 54 bearbeitet, ehemals 55. Diese Frau wollte wohl einen Antrag stellen für den gesamten Hausrat, Waschmaschine usw.. Sie hatte eine lange Liste dabei, die sie in der Wartezeit geschrieben hatte. Beschäftigt mit meinen eigenen Problemen, ging mir dies einfach nicht aus dem Kopf. Ich hätte gedacht, dass das nicht möglich sei. Denn man sollte ja gucken, dass man mit seinem Geld auskommt und eine Erstausstattung war es auch nicht. Der Mann am Schalter für schnelle Angelegenheiten beschwerte sich darüber, dass er kein Geld bekam, obwohl er Miete zu bezahlen habe, und dass er zum wiederholten Mal dieselben Krankmeldungen nachreichen müsste. Und wieder einmal stellte ich mir die Frage, nur weil mich das Ganze um mich herum nichts angehen und auch interessieren würde, ob ich es trotzdem dann mitanhören muss oder sogar sollte. Bei meiner Postfiliale gibt es Diskretionsschilder, die Schalter sind auch nicht direkt nebeneinander und die Gespräche sind wohl auch weniger aufbrausender Natur. Nach aufbrausend war mir auch. Ich durfte den einen, einen Mitarbeiter nicht sprechen. Ich hatte das Gefühl, so abgewimmelt werden zu können, dass ich der Verzweiflung nahe war, merkte, wie sich das Wasser in meinen Augen sammelte, die Stimme vibrierte. Aber aufgeben hätte den Ruin bedeutet und war somit keine Alternative. Dasselbe muss sich wohl auch die Mitarbeiterin gedacht haben. Irgendwann, aus welchen Gründen auch immer, ich muss wohl das ultimative Argument gebracht haben, auch wenn ich nicht mehr weiß, welches, war sie bereit mir zu helfen. Naja, zumindest war es nicht überraschend. Den Mitarbeiter durfte ich dann immer noch nicht sprechen, aber ich könnte ja Widerspruch einlegen. Vielleicht auch besser, denn durch die Atmosphäre und die Eindrücke wäre mir eine Argumentation schwer gefallen und womöglich nicht gelungen, so wie man hier erkennt, dass ich vor lauter Beschreibung der Situation vergessen habe zu benennen, worum es hier eigentlich ging.