Erinnern zwischen Abwehr und Alarmismus
Schwierigkeiten bei der vergangenheitsbezogenen Analyse der Gegenwart / Holdger Platta ©
Ein Gasbeitrag von Holdger Platta. Gastautoren spiegeln nicht unbedingt die Meinung des Blogbetreibers wieder.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
um gar nicht erst Zweifel aufkommen zu lassen, erkläre ich gleich zu Beginn dieses Vortrags, daß hinter dem Thema, das ich in der folgenden Stunde zu behandeln gedenke, noch ein zweites Thema steckt.
Nein, ich werde mich nicht nur mit der Frage beschäftigen, wie es mit dem Erinnern heute ganz allgemein aussieht. Das spezielle Thema hinter dem Thema lautet vielmehr:
Gibt es Entwicklungsprozesse im heutigen Deutschland, die uns denken lassen an die Endphase der Weimarer Republik und an das Dritte Reich? Und: ist es nicht nur möglich, Vergleiche anzustellen zwischen dieser Vergangenheit mit unserer Gegenwart, sondern könnte dieses Vergleichen sogar erforderlich sein – und zwar erforderlich gleich aus einem doppelten Grund:
sachlich, weil eine derartige Diagnose – jawohl, es gibt Entsprechungen zwischen damals und heute – auch einer Prognose gleichkommen könnte und weil
zweitens und in ethischer Perspektive diese Diagnose mithin eine dringliche Warnung vor einer humanitären Katastrophe enthielte.
Die Frage hinter meiner Frage lautet daher: gibt es – jawohl, ich riskiere dieses Wort! – Refaschisierungstendenzen in der Bundesrepublik, und diese Refaschisierunstendenzen bedrohen womöglich schon jetzt die humane Integrität der Bundesrepublik?
Eines dürfte wohl unzweifelhaft sein: die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Grundrechtekatalog stellt historisch nicht nur die politische Antwort dar auf das Dritte Reich, sondern diese politische Antwort hatte auch eine klare ethische, eine eindeutig humane Dimension. Faschismus, das war – und ist bis heute – nicht nur ein immens wichtiger Sachbegriff, Faschismus ist auch ein Wertungsbegriff. Faschismus, das ist nicht nur ein Begriff aus der Regimenlehre, nicht nur eine wertungsneutrale Kategorie zur Kennzeichnung bestimmter Gesellschaftssysteme, sondern ein Begriff der Kritik, der sich eng auf die Naturrechtsinteressen der Menschen stützt und bezieht. Faschismus war und ist in dieser Hinsicht stets auch gerichtet gegen die Maximen der Menschenwürde und der Menschenrechte schlechthin. Freilich, ich füge hinzu:
Um so wichtiger wird es deshalb auch sein, beides voneinander zu unterscheiden: die sachliche von der ethischen Dimension. Es geht nicht um ein Entweder-Oder, es geht um ein Sowohl-Als auch. Was also hat es mit der Vergleichbarkeit/Unvergleichbarkeit der Bundesrepublik mit der Endphase der Weimarer Republik und den Anfängen des Dritten Reichs auf sich – sachlich wie ethisch gefragt?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht überrascht es Sie ja: mein Vortrag setzt inhaltlich ein mit einer Verteidigung unserer Kanzlerin Merkel. – Angela Merkel hatte im August des vergangenen Jahres das Sarrazin-Buchi mit den Worten kritisiert, daß diese Publikation „nicht hilfreich“ii sei. Diese zarte Immerhin-doch-Distanzierung bedachte der Journalist Henryk M. Broder daraufhin, in der Sendung „Maybrit Illner“ am 2. September 2010 mit dem Satz: wenn „eine nicht für die Abgabe literarischer Urteile gewählte Kanzlerin ein Buch als nicht hilfreich“ bezeichne, grenze das „an die übelste Tradition der Reichschrifttumskammer des Dritten Reichs.“iii Nicht nur der anwesende Grünen-Chef Cem Özdemir empfand diesen Vorwurf als „absurd“.iv Ich komme darauf noch zurück. Vorher noch weitere Beispiele für Bewertungen der Gegenwart, die sich unverkennbar auf unsere faschistische Vergangenheit beziehen.
Am Montag, den 27. Oktober 2008 – die weltweite Finanzkrise hatte einen ersten Höhepunkt erreicht –äußerte sich der Münchener Wirtschaftswissenschaftler und Ifo-Chef Hans-Werner Sinn in einem Interview mit dem Berliner „Tagesspiegel“ folgendermaßen: man habe mit den „persönlichen Angriffen“ auf Bankmanager „nur Sündenböcke“ gesuchtv. Und im weiteren Text wörtlich: „Damals“ – gemeint ist die erste große Weltwirtschaftskrise der Jahre 1929 folgende – „Damals hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager.“vi Auch hierauf gab es entsetzte Reaktionen in der Öffentlichkeit – doch später mehr dazu. Hier zunächst noch Beispiel Nummer drei für „vergangenheitsbezogene“ Einschätzungen der Gegenwart. Ich spreche nun von unserem Bundespräsidenten Christian Wulff.
Dieser Politiker – damals noch niedersächsischer Ministerpräsident – äußerte sich keine zehn Tage später nach dem Statement des Ifo-Chefs Sinn ganz im Sinne von Sinnvii: in der N24-Talkshow „Studio Friedman“ stellte sich Wulff mit dem folgenden Satz vor die weltweit in die Kritik geratenen Manager (Michel Friedman hatte den CDU-Politiker im übrigen nach dessen Verständnis von Gerechtigkeit gefragt):
„Ich finde, wenn jemand 40 Millionen Steuern zahlt und Zehntausende Jobs
schafft, dann muss ich nicht gegen den eine Pogromstimmung entwickeln,
sondern dann kann ich sagen, er leistet einen wesentlichen Beitrag zu
unserem Land und zu unserem Gemeinwesen.“viii
Am Donnerstag, den 6. November 2008, war das, drei Tage vor dem Gedenktag an die nazistischen Pogrome im Jahre 1938, an jenen Abend und jene Nacht also, da in Deutschland die Synagogen brannten, Hunderte von Juden ermordet, Tausende von Juden gefoltert und Zehntausende von Juden darauf des Landes vertrieben wurden.
Auch hier reagierte unter anderem der Zentralrat der Juden in Deutschland und forderte den Rücktritt des Ministerpräsidenten Wulffix, auch hier gab es – soll man sagen: selbstverständlich? – eine Entschuldigungx wie im Falle Hans-Werner Sinnxi, auch hier wurde dabei eine geschichtstotalisierende Behauptung aufgestellt, die „fragwürdig“ zu nennen eher eine fragwürdige Beschönigung ist. Hatte Sinn in seinem „Offenen Brief“ an den Zentralrat der Juden geschrieben:
„Die Suche nach vermeintlich Schuldigen führt stets in die Irre.“xii
- - man fragt sich: gilt das auch für Hitler, für Eichmann, für Höß, und gab es
bei dieser Krise keine Akteure? – Standen wir also bei diesem Wirtschaftsgeschehen vor einer Krise ohne Personal? Das Spielcasino war menschenleer gewesen? - - - Während Ifo-Chef Sinn also das Wirtschaftsgeschehen in die Anonymisierung schickte, verstieg sich Wulff in seinem Totalrückzug zu dem folgenden Satz:
„Nichts kann und darf mit der Judenverfolgung und den schrecklichen
Pogromen gegen die Juden verglichen werden…“xiii
Nichts, wirklich nichts? – Doch hier zunächst eine andere Frage, bevor uns das Wulff-Zitat beschäftigen wird. Wieso kommt es im Kontext mit deutscher Schuld im Dritten Reich immer wieder zur Erforderlichkeit von Entschuldigungen im Nachkriegsdeutschland? Psychoanalytisch betrachtet, könnte man von einem Wiederholungszwang sprechen, der sich da geltend macht, von einem Vorgang also, der die Betroffenen nötigt, immer wieder eine Vergangenheit zu rekonstellieren, die doch eigentlich abgewehrt werden soll. Man reiht sich mit Bemerkungen wie denen von Wulff und Hans-Werner Sinn gleichsam auf der Opferseite ein und entlastet sich damit - als Nachfolgegeneration der Eltern auf der Täterseite - von dem Druck, der auf einem selber noch liegt. Und beschwört gerade dadurch ein weiteres Mal die Entfremdung von den jüdischen Opfern damals herauf. Aber: es gibt eine Erklärung dafür, die einfacher ist und auf die ich später zurückkommen werde. Hier sei zunächst einmal das Folgende festgestellt:
Selbstverständlich liegen alle genannten Personen mit ihren Äußerungen falsch. Die äußerst zurückhaltende Kritik der Kanzlerin an dem Sarrazin-Buch in die „übelste“ Tradition der nazistischen „Reichsschrifttumskammer“ zu stellen, kommt einer Äußerung aus dem Tollhaus gleich. Die Reichsschrifttumskammer des Naziregimes hatte vor allem die Aufgabe, unliebsamen, vor allem jüdischen, SchriftstellerInnen den Weg zur Veröffentlichung ihrer Bücher zu versperren, diese Kammer organisierte also reichsweit das Berufsverbot für sogenannte „Feinde“ des Regimesxiv. Wo, bittteschön, hätte das Merkel getan? Sie hat ein Buch kommentiert, recht zaghaft zudem, das Alfred Grosserxv, der deutsch-französche Politologe, am 9. November 2010 in der Frankfurter Paulskirche als „sozialrassistisch“ bezeichnet hatxvi. Ganz gewiß stand Angela Merkel in diesem Falle ideologisch nicht auf der Seite der Faschisten von einst, sondern hatte Gegenposition bezogen zu deren Ideologie. Mit anderen Worten: hier wurde durch Broder ausgerechnet einer antifaschistischen Selbstpositionierung Faschismus unterstellt. Broder mag äußerst „scharfzüngig“ sein; „scharfsinnig“ war Broder in diesem Fall nicht. Mit seiner spitzen Zunge bediente er hier lediglich die stumpfesten Ressentiments. Und kennt sich offenbar beim Unterschied zwischen Zensur und Zensuren nicht aus.
Und was die Herren Sinn und Wulff betrifft: diese stellten sich bei ihrer Gleichsetzung von Managerschelte mit Judenverfolgung auch nicht gerade antifaschistischerweise auf die Seite einer machtlosen Minderheit. Ganz im Gegenteil: auch hier ging die Polemik mit der Macht! Verkehrung jedweder Antifaschismus-Tradition also auch hier! Rechter Alarmismus ist das, Alarmismus, der berechtigte Kritik an den Verursachern der Finanzkrise 2008 gleichsetzt mit Menschenvernichtung, Alarmismus, der ein Grundmerkmal der Demokratie – die Meinungsfreiheit nämlich und den freien Austausch der Kritik - identifiziert mit den furchtbarsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Was hinter diesen Zuschreibungen „Reichsschrifttumskammer“, „Pogromstimmung“ und „Judenverfolgung“ steckt, ist also nichts weniger als die Illegalisierung jeglicher Kritik. Nicht Illegalisierung mithilfe des Strafgesetzbuchs, aber Illegalisierung mithilfe propagandistischer Tricks, die suggestiv grunddemokratisches Geschehen des Kritisierens in eins setzen mit Berufsverboten, mit Synagogenverbrennung und Massenmord. Schlimmer kann ein Delegitimieren von Kritik an Managern oder am Sozialrassimus eines Buches nicht aussehen. Das aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist meines Erachtens noch längst nicht der ganze Skandal: in der Tat wird, wie unter anderem der Zentralrat der Juden in Deutschland zu diesen Gleichsetzungen festgestellt hat, das Geschehen im Dritten Reich mit solchen Äußerungen auch bagatellisiert, werden die Opfer von damals „beleidigt“ (so Stephan Kramerxvii, der Geschäftsführer des jüdischen Zentralrats im Oktober 2008) und „verhöhnt“ (so die Linken-Politikerin Petra Pau zu diesen Entgleisungenxviii). Und nicht zuletzt:
Bei all diesen propagandistischen Mißbräuchen der Shoa kann nicht einmal entferntest von ernsthafter Analyse der Geschehnisse damals und heute die Rede sein. Die Dummheit all dieser Äußerungen wird deswegen auch nur von einem noch übertroffen: von dem völligen Mangel an Empathie in die Opfer von einst. Zu billigsten Aggressionszwecken werden die NS-Verbrechen instrumentalisiert. Es gilt, die sogenannten ökonomischen „Eliten“ abzuschirmen vor jeglicher Kritik bzw., im Falle Sarrazin, Schützenhilfe zu leisten für eine Person, die nicht nur eine ganze Religionsgemeinschaft – den Islam – in eine üble Stigmatisierungskampagne hineinzuschreiben versucht hat, sondern die Armen und die Zwangsarbeitslosen in unserer Gesellschaft gleich mit. Ein Beispiel nur: für noch gefährlicher als die Moslems, so Sarrazin in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“, halte er – Zitat – „die Besitzlosen und Leichtsinnigen, die häufig genug noch durch Laster aller Art hinabgezogen werden.“xix Also: diesen Menschen geht es nicht nur schlecht, diese Menschen sind auch schlecht. Grossers Kommentar dazu, in der erwähnten Paulskirchenrede aus dem letzten Jahr:
„Ich dachte, diesen Rassismus gebe es nicht mehr seit der Mitte des 19.
Jahrhunderts.“xx
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist klar: dieser Art des Vergleichens – mehr noch: Gleichsetzens – geht kein wirkliches Erinnern voraus. An die Stelle rationaler Argumentation rückt diese Polemik die absurden Konterbehauptungen:
Wer Mächtige kritisiert, ist ein Antisemit!
Wer Sozialrassismus zurückweist, ein Faschist.
Man faßt es nicht und fragt: wie ist es um eine Gesellschaft bestellt, in der solches möglich ist? Und: was hat es mit der bundesdeutschen Medienwelt auf sich, die solchen Diffamierungsversuchen beste Druckseiten und Sendezeiten zur Verfügung stellt, die Kritik daran aber in kleine Blätter und späte Nachtprogramme verbannt?
Dieser „Antifaschismus“ geht auf die Bevölkerung los, nicht auf die herrschenden Personen in Wirtschaft und Politik, er geht um so stärker auf die Bevölkerung los, je macht- und einflußloser sie ist, und dieser „Antifaschismus“ stürzt sich dabei nahezu ausschließlich auf die angeblich faschistische Mentalität seiner Gegner. Kurz: wir haben es bei all diesen Äußerungen mit Subjektivierungstricks zu tun, die den Blick ablenken sollen von den objektiven Problemen des heutigen Gesellschaftsgeschehens. Um es mit einem Wort zu benennen, das vor Jahrzehnten Klaus Theweleit in die bundesdeutsche Faschismus-Debatte eingebracht hat, in seinem Buch über die „Männerfantasien“ (1977/78)xxi: die Probleme der Gesellschaft und Politik, die zu lösen sind, werden „umcodiert“. Aus der Frage „Kapitalismus ja oder nein?“ wird die Frage „Wie gierig sind die Banker/Manager?“ – und am Ende lautet die Antwort „Gierig sind wir alle!“ – wie zum Beispiel in der Plasberg-Talkshow zu diesem Thema am 20. Januar 2010 (= „Genug ist noch zu wenig – Warum regiert die Gier?“). Und da diesem psychologischen Befund noch das Aussagepaar hinzugefügt wird: „Gierig waren wir immer schon, gierig werden wir immer sein!“xxii, ist das ökonomische System völlig aus dem Schneider. Wir haben es mit einer anthropologischen Konstante zu tun. Die Finanzkrise 2008 Folgende war also ein Betriebsunfall unserer Biologie, nicht des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Um an dieser Stelle den nach wie vor gültigen Satz von Max Horkheimer zu zitieren, aus seinem Aufsatz „Die Juden in Europa“, verfaßt 1939xxiii: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, der sollte auch vom Faschismus schweigen.“xxiv
Damit ist ausgesagt, von welchem Faschismus-Verständnis ich ausgehe und welches Faschismus-Verständnis diesem Vortrag zugrundeliegt: Faschismus ist ein Krisenprodukt des Kapitalismus, der in Deutschland aufkam, als es mehr und mehr Menschen sozioökonomisch schlechtging; Faschismus wurde finanziert und an die Macht intrigiert unter anderem von Vertretern der Rhein-Ruhr-Schwerindustrie. Und da sich in anderen Ländern Europas – in Ungarn, Österreich, Polen zum Beispiel – unter den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise ähnliche Rechtstendenzen entwickelten, da sozioökonomischer Verfall und Aufstieg von Rechtsparteien wieder und wieder – genau in dieser Verschränkung - auch das Geschehen nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmte, läßt sich mit einigem historischen Recht der Satz formulieren: der Kapitalismus birgt unablässig in sich die Faschisierungsgefahr. Kommt zu einer bestimmten Psychologie
die Angst vor dem eigenen materiellen Abstieg hinzu,
sehen sich diese Menschen verraten von den etablierten Parteien
und zu wenig geschützt von der Demokratie,
dann droht in bestimmten Bevölkerungsschichten bei Menschen mit einer bestimmten Mentalität fast zwangsläufig das Abdriften nach rechts. Vor allem die Forschungen des Bielefelder Pädagogen und Gewaltforschers Wilhelm Heitmeyer und seines Teams sind dabei seit Jahren von besonderem Interessexxv.
Zunächst: ganz ausdrücklich bestätigte mir die Mitarbeiterin an diesem Forschungsprojekt, Beate Küppers, daß sich die Bielefelder Experten in der Nachfolge sehen zu den Studien, die in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre von Adorno und anderen zur Psychologie des „Autoritären Charakters“xxvi vorgenommen worden sindxxvii. Das Bielefelder Forschungsprojekt zur Analyse des von dem Heitmeyer-Team so benannten Einstellungssyndroms „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, abgekürzt GMF, geht zurück auf das us-amerikanische Vorbild und erfaßt, wie die damaligen Studien auch, die folgenden Teilmomente dieser charakterlich-ideologischen Grundstruktur: Rassismus und Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Abwertung von Obdachlosen, Diffamierung von Homosexuellen, Behinderten und Langzeitarbeitslosen, die „Einforderung von Etabliertenvorrechten sowie Islamophobie und Sexismus“xxviii. Und damit bin ich auch an einem ganz entscheidenden Punkt meines Vortrags, an jenem Punkt, der als das affektiv-ideologische Grundmotiv jedweder faschistischen Bewegung formuliert werden kann: faschistische Psychologie, faschistische Ideologie sowie faschistische Praxis gehen von einer zentralen Grundauffassung aus – „von der Ungleichwertigkeit der Menschen“xxix, einer Grundauffassung, die dann zur faschistischen Gefährdung wird, wenn sie ganze Bevölkerungskreise ergreift und einhergeht mit dem Bestreben und der Praxis, die Menschenrechte außerkraft zu setzen und zu beseitigen. Durchaus nicht die Menschenrechte aller Individuen, aber die Grundrechte eines jeden Menschen, der auf diese Liste der zu bekämpfenden Feinde gerät. An dem einen oder anderen Merkmal des Faschismus mag sich dabei durchaus etwas ändern, an der Substanz dieses Fühlens, Denkens und Handelns ändert sich nichts. Ich konkretisiere hier beides kurz, Merkmalswandel und Konstanz der Substanz:
Zweifellos nahm bei sämtlichen früheren Faschismusbewegungen der Nationalismus einen der vordersten Plätze ein: zum deutschen Faschismussyndrom zählte zum Beispiel ohne Frage der Haß auf die Franzosen, der Haß auf die Polen (um nur diese Nationen zu nennen). Der zeitgenössische Faschismus fühlt und denkt und handelt hingegen immer stärker in europäischen Kategorien. Es gibt immer stärker einen nationenübergreifenden Eurofaschismus, der das Goebbels-Schlagwort von der „Festung Europa“ in den Vordergrund rückt und den alten, den nationalistisch-verengten, Ethnozentrismus mehr und mehr beiseitgeschoben hat. Freilich: Ethnozentrismus bleibt dieses gleichwohl! Und Beispiel zwei: der neue Rechtsextremismus bei uns geht nicht mehr mit gleicher Intensität wie früher auf die jüdischen MitbürgerInnen los, sondern hat aufs deutlichste die Zwangsarbeitslosen und die Muslime an deren Stelle gerücktxxx. Aber auch dieser „Feindesaustausch“ ändert am faschistischen Charakter dieser Grundeinstellung nichts. Was bedeutet: wer diese Veränderungsprozesse verkennt, steht allzusehr in Gefahr, die neuen Versionen des Faschismus zu übersehen.
Damit an dieser Stelle kein Mißverständnis entsteht: das Forscherteam um den Bielefelder Wissenschaftler Wilhelm Heitmeyer erliegt den Gefahren dieses geschichtlich-verengten Blickes nicht. Zwar vermeiden die Bielefelder Wissenschaftler in ihren Veröffentlichungen zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichtkeit“ (GMF) die Faschismus-Vokabel, aber in der Sache ist die Sache klar: es gibt wieder Faschismus in der Bundesrepublik, und es gibt Faschismus durchaus nicht nur oder vorrangig dort, wo wir ihn gemeinhin unterzubringen pflegen, bei NPD, rechtsextremistischen Kameradschaften und Skinheads. Es macht sich in der Bundesrepublik Deutschland vor allem ein Faschismus breit – die Bielefelder Studien zeigen dies – außerhalb seines überkommenen Bewegungsbereichs, er macht sich breit in der Bundesrepublik in offizieller Regierungspolitik und offiziellen Regierungskampagnen, er macht sich breit in den Veröffentlichungen renommierter Buchverlage und in Tageszeitung mit Bestauflagen wie „BILD“, FAZ und WELT – um nur diese Blätter stellvertretend für andere zu nennen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, an dieser Stelle ein kurzes Zwischenresümee:
Ich habe zeigen können – so hoffe ich jedenfalls -, daß es völlig falsche Faschismus-Warnungen geben kann; die Äußerungen von Broder, Wulff und Sinn waren nur Exempel dafür. Ich habe – so hoffe ich jedenfalls – zu zeigen vermocht, daß es präziser Analyse bedarf, die prinzipiell Parallelen wie Unterschiede (Wandlungsprozesse) erfaßt, um Neuauflagen des Faschismus erfassen zu können. Und trotzdem, so vermute ich, läßt uns ein Unbehagen immer noch nicht los: übertreiben wir – bei aller Präzisierung und Differenzierung – nicht dennoch bei unserer Vergleichsdiagnostik, mit dem Gebrauch des Wortes „Faschismus“?
Nun, ich könnte mich natürlich zu retten versuchen mit der genialen Formulierung von Ernst Blochxxxi: ich hätte mit meinen Aussagen heutige Realitäten lediglich „zur Kenntlichkeit entstellt“. Und dieses sei so legitim wie erforderlich. Aber so leicht will ich es uns nicht machen – weder Ihnen noch mir! Noch nämlich, so meine ich, habe ich wirklich belastbares Material nicht vorgelegt, das diese Besorgnis plausibel zu machen vermag, die Besorgnis, daß sich in der Bundesrepublik ein neuer und neuartiger Faschismus auszubreiten beginnt. Wovon spreche ich?
Ich spreche von Hartz-IV, von einer seit 2005 konsequent betriebenen Politik der Sozialstaatsvernichtung in der Gestalt von Gesetzen, Verwaltungshandeln und Begleitagitation. Ich spreche von einer Politik, die ein Interviewpartner von mir, ein sogenannter Alg-Zweier, vor einigen Jahren auf die Formel gebracht hat: „Hartz-IV, das ist Menschenverachtung in Euro und Cent.“xxxii
Feststellung eins: mit Hartz-IV sind Menschen, die ohne eigenes Verschulden arbeitslos geworden sind, nicht nur in die Armut herunterreglementiert worden, sondern in ein Leben weit unterhalb des Existenzminimums. All das, was das Bundesverfassungsgericht vor fast genau einem Jahr, am 9. Februar 2010xxxiii, noch einmal als unaufhebbare Pflichtaufgaben des Staates im Sinne der Menschenwürde (Artikel Nummer eins unseres Grundgesetzes) aufgeführt hat, all das bleibt die Bundesrepublik seit dem 1. Januar 2005 den Zwangsarbeitslosen, den „Aufstockern“ und den Armutsrentnern schuldig: es wird nicht mehr die physische Existenz der betroffenen Menschen sichergestelltxxxiv; es wird nicht mehr deren soziokulturelle (und übrigens auch: politische!) Teilhabemöglichkeit sichergestelltxxxv; es wird nicht mehr sichergestellt, was das Bundesverfassungsgericht als Möglichkeit „zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen“xxxvi bezeichnet hat. Gern erläutere ich Ihnen das alles im anschließenden Gespräch mündlich.
Feststellung zwei: damit hat der Staat Bundesrepublik Deutschland quälendes Leid über Millionen von Menschen gebracht. Damit hat dieser Staat krankmachende Aussonderungsprozesse der Zwangsarbeitslosen in Gang gesetztxxxvii. Wer im „Regelsatz“ keinen Euro und Cent für Verwandtenbesuche eingeplant hat, wer den Zwangsarbeitslosen keinen Euro und Cent für Geburtstagsgeschenke an Freunde und für Bewirtungskosten für Freunde und Verwandte zugestehen mochtexxxviii, betreibt Zwangsisolation der betroffenen Menschen.
Feststellung drei: Wer der Bürokratie schon bei kleinsten Verfehlungen der Zwangsarbeitslosen, Aufstocker und Armutsrentner schärfste Sanktionsrechte einräumt – konkret: Kürzung des Regelsatzbetrages bis hinunter auf Null! -, der spielt mit dem Leben dieser Menschen. Was per definitionem durch den Staat Grundsicherung im Sinne von „Existenzminimum“ ist, das darf nicht unterschritten werden, weil damit das Mittel der Strafe per definitionem dieses Gesetzeswerkes die Sanktion Existenzvernichtung istxxxix. Mit Hartz-IV wurde dieses sadistische Bestrafungsrecht gegenüber Hilfebedürftigen aber Recht und Gesetz, und seit dem 1. Januar 2005 wird dieses Gesetz – das natürlich kein Recht ist! – von den Behörden auch wieder und wieder exekutiert. Was im Strafrecht wie im gesamten Rechtswesen der Bundesrepublik sonst nach wie vor rechtsgültiger Rechtsgrundsatz ist, das sogenannte „Übermaßverbot“xl, das selbst bei schwersten Verbrechen einzuhalten ist, das ist für die Ärmsten der Armen in der Bundesrepublik seit dem 1. Januar 2005 außerkraft gesetzt.
Um den Maßstab meines gesamten Vortrags heranzuziehen – den Maßstab Humanität, klar definiert in den Artikeln der UNO-Menschenrechts-Chartaxli: was da als Gesetzeswerk zum 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, das ist Faschismus der Legislative und Faschismus der Bürokratie. Das ist „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF) in der Gestalt von leidenschaftslosen Paragraphen und ihrer leidenschaftslosen Behördenexekution an den betroffenen Menschen seit nunmehr gut einem halben Jahrzehnt. – Weder läßt diese Gesetzgebung aktive Mitgliedschaft in Vereinen, Gewerkschaften und Parteien zu noch freie Wahl des eigenen Aufenthaltsortes, weder Teilnahme an Demonstrationen noch das Abo einer Tageszeitung oder die Nutzung eines eigenen Telefon- und Internetanschlusses. Durch staatlichen Geldentzug wurden für Millionen von Hilfebedürftigen in der Bundesrepublik die entsprechenden Grundrechte außerkraft gesetzt bzw. deren Wahrnehmungsmöglichkeit wegreguliert. Was mich zu der letzten Feststellung, der Feststellung Nummer vier bringt.
Die Gesetzgebung mit dem Propagandatitel Hartz-IV kommt über weite Strecken hinweg und de facto einer Rechtlosstellung der betroffenen Menschen gleich, einer Illegalisierung, die in vielerlei Hinsicht den Etappen der Rechtlosstellung ähnelt, die ab dem 17. Februar 1933 die Juden in Deutschland erdulden mußtenxlii. Auf dem fiskalischen Weg des Geldmittelentzuges wurde seit dem 1. Januar 2005 ein Sonderrecht für die Hilfebedürftigen in der Bundesrepublik eingeführt, das deren Grundrechte zu großen Teilen außerkraftsetzt, ein Sonderrecht, das die Betroffenen der Befriedigung grundlegender Lebensbedürfnisse beraubt, der Realisierung sozialer, politischer und kultureller Teilhaberechte. Um es an einem Beispiel zu veranschaulichen, das man als läppisch empfinden mag:
Am 12. November 1938 wurde per Anordnung der Reichskulturkammer allen Juden der Besuch von Theatern, Kinos, Konzerten und Ausstellungen untersagtxliii. Fast möchte man fragen: so spät erst? Dies alles aber ist den Zwangsarbeitslosen und Armutsrentnern in der Bundesrepublik ebenfalls verwehrt, und zwar durch schieren Geldentzug. Das Menschenverelendungsgesetzeswerk Hartz-IV erfüllt insofern viele Funktionen, die im Dritten Reich die Sondergesetzgebung für die Juden erfüllte. Aber: ist das schon alles? – Nein, das ist längst noch nicht alles! Und damit komme ich zur Begleitpropaganda zu Hartz-IV. Ich war genötigt, eine Auswahl zu treffen, deswegen nur einige wenige Beispiele aus dem Bereich der Menschenhetze gegen die sogenannten „Unproduktiven“, wie Peter Sloterdijk seit seinem FAZ-Artikel vom 13. Juni 2009 die unverschuldet arbeitslos gewordenen Hilfebedürftigen gerne nennt (= im Aufsatz „Die Revolution der gebenden Hand“).
Doch auch zu diesem kleinen Katalog der Menschendiffamierungen eine wichtige Bemerkung vorweg:
Es fällt auf, daß alles, was ich im Folgenden zu zitieren habe, zumeist völlig emotionsfrei vorgetragen wird. Wir haben es, sozusagen, mit einem Faschismus der guten Manieren zu tun, wir hören kein Hitlergeschrei und kein Goebbels-Gebrüll, sondern einen eiskalten, einen „coolen“ Faschismus, einen Faschismus der neuen ‚Sachlichkeit’ oder Gefühllosigkeit. Diese Menschenfeinde vom zeitgenössischen Faschismus hassen nicht, sie meinen nur. Man sieht sich erinnert an Herbert Marcuses Thesen zur „Psychologie der Neutralität“xliv – einer Neo-Variante der faschistischen Psychologie – sowie an die Aussagen von Adorno und Michaela von Freyholdxlv zum „potentiell gefährlichsten“xlvi Typus des „Autoritären Charakters“, an den „manipulativen Typus“xlvii. Es ist der Typus des Technokraten, des Technokraten ohne Fähigkeit zur Objektbeziehung, des Vertreters eines „administrativen Sadismus“xlviii. Diese Menschen, so Adorno, „interessiert die Konstruktion von Gaskammern, nicht das Pogrom“xlix, ihr Sadismus ist von „analem Charakter“l, dessen Hauptzug das Nicht-Weggeben-Können. Deswegen, wie vorhin dargelegt, beruht auch die Menschenfeindlichkeit der Hartz-IV-Gesetze und ihres Exekutierens auf einer totalen Fiskalisierung der Menschenbeziehung bzw. auf einer Art Monetarisierung der Menschenfeindlichkeit. Der Austausch von Begriffen wie „Hilfebedürftige“, „Arme“, „Arbeitslose“ – alles Begriffe, in denen der notleidende Mensch noch anwesend ist – gegen Begriffe wie „Kunden“, „Leistungsbezieher“ oder „Massentransfernehmer“ (so Sloterdijk in dem Aufsatz, aus dem bereits zitiert worden istli), gegen Bezeichnungen also, aus denen die Menschennot entfernt worden ist und nur noch das Ansprüchehaben und Geldnehmen zu Worte kommt, signalisiert das aufs deutlichste. Aus Menschenbeziehung macht dieser Begriffeaustausch ein bloßes Geldverhältnis. „Elend“ gibt es in dieser Sprache nicht mehr, nur noch ein Wegnehmenwollen. Kein Zufall daher, daß eben dieser Sloterdijk unser Gemeinwesen als „Staatskleptokratie“lii bezeichnet hat, als Herrschaft des Klauens, und zwar lediglich deshalb, weil der Staat Steuern einnimmt und sie unter anderem für soziale Zwecke verwendet; kein Zufall auch, daß eben dieser Sloterdijk gegen diese Geldwegnehmerei zum „fiskalischen Bürgerkrieg“liii aufgerufen hat. Doch damit, endgültig, zu meinen Belegstücken der Begleitpropaganda zu Hartz-IV:
Geradezu „klassisch“, „klassisch“ im Sinne einer überkommenen Faschismus-Terminologie, ging es zunächst mit Wolfgang Clement los: im Herbst des Jahres 2005 startete der SPD-Bundesminister für Arbeit und Soziales seine „Parasitenkampagne“ gegen die ALG-II-BezieherInnen in der Bundesrepublikliv. Unter Wiederaufnahme eines zentralen Entmenschlichungsbegriffs aus Adolf Hitlers „Mein Kampf“lv rief er die bundesdeutsche Politik und Bevölkerung zur Schädlingsbekämpfung auf. Nicht nur der historischen Erfahrung wegen lauert deutlich erkennbar hinter dieser Biologisierungsmetapher „Parasiten“ die Vernichtung der „Schmarotzer“ mit Chemie. Und erinnert sei auch daran, daß in wörtlicher Übersetzung das Wort „Kampagne“ nichts anderes als einen „Feldzug“ meint. Clements chemischer Feldzug gegen die Zwangsarbeitslosen in der Bundesrepublik blieb freilich ungesühnt. Obwohl ein Jungfunktionär der NPD aus dem Lahn-Dill-Kreis aufgrund dieses Begriffs „Parasiten“ – der hatte damit „die“ Ausländer in Deutschland gemeint – rechtskräftig wegen Volksverhetzung verurteilt worden ist, vom Oberlandesgericht in Frankfurt am Main am 15. August 2000lvi, mochte die Berliner Staatsanwaltschaft gegen Herrn Clement nichtmal ein Ermittlungsverfahren einleiten. Begründung: dieser Begriff zähle zur Normalsprache bundesdeutscher Politik und sei daher straffrei gestelltlvii.
Müntefering, der sozialdemokratische Parteichef, zog am 10. Mai des Jahres 2008 dann mit einer Interviewäußerung nach. In der ZEIT stand zu lesen, daß, wer nicht arbeite, auch nicht essen solle. Der praktizierende Katholik glaubte sich mit dieser Forderung nach dem Hungertod aller Zwangsarbeitslosen in der Bundesrepublik sogar durch die Bibel gedeckt – gedeckt durch den 2. Paulus-Brief an die Thessalonicher im Neuen Testament (siehe dort, Kapitel 3, Vers 10!). Münteferings Maxime also gleichsam mit göttlichen Weihen versehen? – Weit gefehlt! Erstens handelt es sich bei dieser zweiten Epistel des Apostel Paulus an die Thessalonicher um eine Fälschung – was ein praktizierender Katholik hätte wissen können. Zweitens hatte Müntefering aus dieser Fälschung falsch zitiert. Es heißt dort nicht: „Wer nicht arbeitet, soll nicht essen.“, sondern: „Wer nicht arbeiten will, der soll nicht essen.“ Was mehr als nur ein kleiner Unterschied ist – nämlich nichts weniger als der Unterschied zwischen Faulheit und unverschuldetem Untätigkeitszwang. Und drittens ist in diesem Bibelabschnitt nicht Lohnarbeit gemeint, sondern Gemeindearbeit, Gemeindearbeit in einer religiösen Kommune weitestgehend ohne Privateigentum (deswegen die Angewiesenheit aller auf die Mitarbeit aller).
Dies also das eine: hier zitiert einer scheinbar die christliche Bibel und kennt diese christliche Bibel nicht. Und das andere: wer die Logik dieses Satzes untersucht, kommt sehr schnell zu der Erkenntnis, daß er als präzise Quintessenz aus zwei anderen Sätzen gelten kann: aus dem Satz „Arbeit macht frei“lviii – soll heißen: Arbeit macht frei von der Gefahr, ansonsten des Hungers zu sterben - und aus dem Satz „Jedem das Seine“lix – was bedeuten soll: dem Tätigen Speis und Trank, dem Faulen das Verrecken durch Nahrungsentzug. Muß ich noch erwähnen, wo während der Endphase des Dritten Reichs diese beiden Vor-Sätze zu Münteferings Conclusio zu lesen waren – und heute noch dort zu lesen sind? – „Arbeit macht frei“ über dem Eingangstor zum Stammlager von Auschwitz, „Jedem das Seine“ über dem Eingangstor des KZs von Buchenwald? Ist das sozialdemokratische Fortsetzung der nazistischen Politik mit anderen Mitteln? – Jedenfalls kann man eines nicht machen: an der Todesdrohung der Müntefering-Maxime vorbeianalysieren!
Womit bereits ein zweites Mal, nach Clements Aufruf zum chemischen Ausrottungsfeldzug gegen die „Parasiten“, von Todeswünschen in der Begleitpropaganda zu Hartz-IV gesprochen werden muß. Aber es geht ja noch weiter:
Keine drei Monate später nach Münteferings Propaganda mit dem dreifach gefälschten Bibelzitat kamen zwei Wirtschaftswissenschaftler von der Technischen Universität Chemnitz mit einer Studie zum Geldbedarf der Arbeitslosen nieder: Anfang September 2008 legten Friedrich Thießen, Inhaber eines Lehrstuhls für Investmentbanking - eine Professur, die dort eingerichtet worden ist und gesponsert wird von der Commerzbank/Frankfurt am Main - und dessen Adlatus, ein Diplomkaufmann mit Namen Christian Fischer, der Öffentlichkeit Berechnungen vorlx, denen zufolge 132,- Euro – ich wiederhole: 132,- Euro – pro Monat genügen würden, um den gesamten Lebensbedarf eines ALG-II-Beziehers sicherzustellen. Besonders auffällig an diesem Zahlenmaterial – angeblich erhoben im Frühsommer des Jahres 2006: 68,- Euro plus 9 Cent pro Monat sollten ausreichend sein, den gesamten Lebensmittelbedarf eines Langzeitarbeitslosen abdecken zu können. Der beigefügten Warenlistelxi war zu entnehmen, daß den „Hartzern“ nur noch Leitungswasser zustehen solle, daß sie keinen Anspruch mehr hätten auf irgendwelche Gewürze – einschließlich Zucker und Salz -, keinen Anspruch auch auf Marmelade, Honig, Pflaumenmus, Butter oder Quark. Und meine eigenen Recherchenlxii ergaben dann, daß mittlerweile alle Preisangaben für die verbliebenen Nahrungsmittel auf dieser Schrumpfliste völlig veraltet waren. Resultat:
Mit diesen knapp 70,- Euro pro Monat hätten die Hilfsbedürftigen nur Zweidrittel ihres Essensbedarfs pro Monat absichern können, bei den Grundnahrungsmitteln Brot und Kartoffeln, Nudeln und Reis sogar nur zwei Wochen lang. Dies also sollte, den Chemnitzer Akademikern zufolge, den Zwangsarbeitslosen in der Bundesrepublik zugemutet werden: der langsame Hungertod, der über die Regelsatzkürzung sich schleichend realisierende Genozid. Ein weiteres Mal also konfrontiert uns das propagandistische Begleitprogramm zu Hartz-IV mit einer Menschenvernichtungsidee!
Womit ich auch bei der allerneuesten Variante solcher Planungen bin, und damit, meine Damen und Herren, begebe ich mitten hinein in Ihre Hansestadt und an Ihre bremische Universität: fast auf den Tag genau ein Jahr ist es her, daß Gunnar Heinsohn, bis Februar 2009 Professor für Sozialpädagogik an der Universität Bremen, die Begrenzung jedweder Form von Sozialhilfe auf maximal 5 Jahre gefordert hat. Am 9. Februar 2010 war das so in der WELT zu lesen, am 16. März 2010 dann auch in der FAZ. Fünf Jahre Sozialhilfe maximal! - Ja, und dann? Was nach dieser maximalen Fünfjahresfrist für die Hilfebedürftigen in der Bundesrepublik Deutschland? – Ab unter die Brücken oder gleich auf den Friedhof? – Liebe Kolleginnen und Kollegen, Hartz-IV ist heute über sechs Jahre in Kraft, rund 7,6 Millionen Menschen in der Bundesrepublik sind nach wie vor angewiesen auf Zahlungen vom Staatlxiii (die gefälschten Zahlen, die uns dank frisierter Statistiken allmonatlich vorgelegt werden, lasse ich hier selbstverständlich außeracht). Hätten diese Menschen, die zum größten Teil seit dem 1. Januar 2005 in dieser Notlage sind, im letzten Jahr also gefälligst den Abgang machen sollen, weil nach Heinsohns Ansicht die Frist für sie abgelaufen war? Und damit angesagt war das „sozialverträgliche Frühableben“ auf bremisches Geheiß?lxiv - Ein weiteres Mal stoßen wir vor zu einem Kern, der unfaßlich erscheint, gleichwohl existiert: Hartz-IV, das soll den genannten Propagandisten zufolge im Grunde nichts anderes sein als ein Masterplan für Massenmord. Im März des letzten Jahres schrieb ich dazu: „Ich weiß nicht, was mir größeres Grauen einflößt: dieser Aufruf zum Völkermord oder dieses furchtbare Schweigen im Land.“lxv Was mir größeres Grauen einflößt, meine Damen und Herren, weiß ich auch heute noch nicht.
Lediglich vier Beispiele habe ich Ihnen vorgeführt, zig andere wären noch zu nennen. Die Äußerungen eines Philipp Mißfelder etwa, vormals Vorsitzender der „Jungen Union“, heute Bundestagsabgeordneter und CDU-Präsidiumsmitglied, der auf einer Wahlkampfveranstaltung am 20. Februar 2009 in Haltern/Westfalen die These von sich gab, eine Erhöhung der Regelsätze für Kinder würde nur zu Absatzsteigerungen führen bei der Alkohol- und Tabakindustrielxvi. Das „nur“ stammt nicht von mir, meine Damen und Herren. Und ausgedrückt hatte Mißfelder mit dieser Verdächtigung gleich dreierlei:
die Zwangsarbeitslosen seien ein Haufen von Nikotinabhängigen und Alkoholikern,
sie würden bei einer Erhöhung der Regelsatzbeträge für Kinder nur den Staat betrügen und
den eigenen Nachwuchs gleich mit.
Ich könnte noch nachliefern die Bemerkung des vormaligen RCDS-Vorsitzenden Gottfried Ludewig aus der Anne-Will-Show vom 25. Mai 2008, die Forderung nämlich nach Halbierung des Wahlrechts für Zwangsarbeitslose. Und nicht zuletzt hätte ich an dieser Stelle auch noch die Bemerkungen eines weiteren Wissenschaftlers zitieren können, die Thesen des Honorarprofessors für Wirtschaftsphilosophie an der Universität Potsdam Gerd Habermann, der sich in der WELT am 30. Oktober 2010 dahingegend geäußert hat, die Würde des Menschen bestehe darin, daß er sich vom Tier unterscheide, und zur Würde eines Hilfebedürftigen, der Geld vom Staat annehme, gehöre es, sich dessen zu „schämen“. Das alles, meine Damen und Herren, hat mit Grundgesetz und Humanität natürlich nichts mehr zu tun und ist nichts anderes mehr als Ausdruck der schieren Menschenverachtung. – In allen diesen Fällen bleibt es bei demselben Resultat: mit Hartz-IV und seiner Begleitpropaganda hat auf massivste Weise die Menschenfeindlichkeit Einzug gehalten in unser Land, ein „Sozialrassismus“, wie Grosser das genannt hat, und wir alle stehen vor dem bestürzenden Paradox, daß seit einiger Zeit ausgerechnet „Sozialpolitik“ die Refaschisierung dieses Landes befördert. „Klassenkampf von oben“lxvii nennt das Michael Hartmann, Professor für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt; als „Verrohung des Bürgertums“, vor allem seiner sogenannten „Eliten“, bis in signifikant nachweisbare Gewaltbejahung und Gewaltbereitschaft hinein, hat das Team um den Pädagogen Heitmeyer diesen fortschreitenden und sich beschleunigenden Entwicklungsprozeß qualifiziertlxviii.
Dazu nur drei Zahlen aus dieser Studie vom letzten Jahr (= Sommer 2010):
Im Mittelwert aller Befragten stimmten 63,1 Prozent der Aussage zu: „Die sozial Schwachen müssen sich selber helfen.“lxix,
unter den Besserverdienenden (dem obersten Bevölkerungsdrittel) taten dies 68,3 Prozentlxx.
Und knapp 40 Prozent aller Befragten äußerten Zustimmung zu dem Satz: „Die meisten Langzeitarbeitslosen sind nicht wirklich daran interessiert, einen Job zu bekommen.“lxxi
Wobei nicht zuletzt das Folgende an all dem bemerkenswert ist: war es beim deutschen Faschismus der 20er und 30er Jahre so, daß erst jahrelang eine entsprechende Propaganda betrieben werden mußte, bevor das kongruente Staatshandeln nachziehen konnte, verhält es sich mit dem zeitgenössischen Faschismus, der mit der Hartz-IV-Politik Platz griff in unserem Land, eher umgekehrt: erst waren die Gesetze da und das bürokratische Staatshandeln gemäß dieser Gesetze, bis weit in die furchtbarste Fertigmache von Hilfebedürftigen hinein, dann erst machte sich die entsprechende Rechtfertigungspropaganda für diese menschenfeindliche Politik auf den Weg! Und inzwischen, so scheint mir, sind wir angekommen bei einem kreisförmigen Selbstverstärkungsprozeß dieser beiden Momente: staatliches Handeln – zum Beispiel das geplante Nikotin- und Alkoholverbot im neuen Regelsatz – befördert das korrespondierende Abwertungsdenken in der Bevölkerung, daß alle Zwangsarbeitslosen nur Süchtige seien, und ein wachsendes Abwertungsdenken in der Bevölkerung versorgt die Politik mit entsprechendem Zuspruch, der sie so weitermachen läßt.
Ich nähere mich damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, dem Schluß:
Ich denke, wir haben gesehen, daß uns Analyse der Vergangenheit auch die Gegenwart präziser verstehen läßt. Präzise heißt übrigens unter anderem auch: sachlich wie temporal nur das zu vergleichen, was miteinander vergleichbar ist: Wörter also mit Wörtern (siehe „Parasiten“), Bücher mit Büchern, Ideologeme mit Ideologemen, Gesetze mit Gesetzen, Mentalitäten mit Mentalitäten – dies einerseits; und andererseits: Anfangsphänomene mit Anfangsphänomenen, Aufstiegsphasen mit Aufstiegsphasen, reales Handeln mit realem Handeln. Wir haben gesehen, daß ein Vergleichen stets Entsprechungen und Differenzen zutagefördern kann. Dabei kann Faschismus durchaus Wandlungsprozessen unterworfen sein: alte Symbole und Riten werden abgeschafft, alte Ideologeme ausgetauscht gegen neue Momente der Ideologie, und bei seiner politischen Durchsetzung auch gänzlich andere Wege eingeschlagen, als das früher einmal der Fall war.
Wir sind dabei gehalten, bei diesem Erinnern und Analysieren, daß wir graduelle Unterschiede nicht unterschlagen, aber auch die substantiellen Entsprechungen nicht. Schließlich, so haben wir gesehen, ist die Frage nach dem richtigen Erinnern zwischen Alarmismus und Abwehr stets auch ein Bewertungs-, nie nur ein reines ‚Sach’problem. Was wäre das auch? Wer die Frage nach Faschismus stellt, stellt nicht nur eine akademische Frage, sondern stellt unserer Gesellschaft die Frage nach ihrer Humanität – und diese Mitmenschlichkeit, so hoffe ich, habe ich zeigen können, ist nicht angesiedelt in irgendeinem Wolkenkuckucksheim abstrakter Ideen, sondern sie läßt sich, nach jahrhundertelangem Kampf und geistigem Bemühen der Menschen um die Fragen des Naturrechts und der Menschenwürdelxxii, sehr präzise definieren mit dem Katalog der Menschenrechte, wie ihn die UNO am 10. Dezember 1948 völkerrechtsverbindlich beschlossen hat.
Die Frage danach, ob sich Geschichte wiederholen könne oder nicht, die Frage ob wir vor dem Wiederholungszwang von Geschichte uns sichern können, potentiell jedenfalls, indem wir fähig bleiben oder fähig werden für ein präzises Erinnern, beantworte ich also mit einem Votum, das eindeutig ist:
Nur wer bei der Vergangenheit klarsieht, kann auch bei der Gegenwart klarsehen. Nicht Marx hat in diesem Falle recht, der im ersten Satz seiner Arbeit über den achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte schrieb – unter Berufung auf seinen Philosophenvorgänger Hegel: „Die Geschichte wiederholt sich nicht, es sei denn, als Farce!“lxxiii, sondern, in diesem Fall, George Santayana, der spanisch-us-amerikanische Denker, dem der Satz zugeschrieben wird: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“ (= „Those who cannot remember the past are condamned to repeat it.”lxxiv). Marx, der ja immer mal wieder auch Polemiker, nicht nur genialer Diagnostiker war, hat schlicht übersehen, daß es ein Gegenbeispiel zu seiner These seit Jahrtausenden gibt: den Antisemitismus. Was anderes stellt der Antisemitismus dar als die unselige Geschichte seiner Wiederholungen? Und wie könnte man, im Angesicht von Auschwitz, sagen: das sei nur Geschichtswiederholung gewesen in Gestalt einer Farce?
Nein, dieses magische Selbstschutzgesetz der Geschichte vor der Wiederholung des Bösen in ihr ist Spinnerei, sonst nichts. Der religiös motivierte Antisemitismus, der zu dem ersten großen Pogrom im Jahre 388 in Kallinikos führte (heute Ost-Syrien)lxxv, der wiederholte sich als religiös motivierter Antisemitismus noch vielfach in der Geschichte, während der Pestzeit zum Beispiel und in dem Aufruf Martin Luthers aus dem Jahre 1543, man solle alle Synagogen und Judenhäuser niederbrennen sowie die Juden selber vertreiben und für vogelfrei erklären, damals dasselbe wie ein Todesurteillxxvi. Und selbst den rassistisch motivierten Antisemitismus, der in Auschwitz seinen entsetzlichsten Gipfelpunkt fand, gab es mindestens schon einmal zuvor: im Spanien des 15. Jahrhunderts, mit der Vertreibung aller Juden – auch der christlichen Juden! – von der iberischen Halbinsel im Amerika-Entdeckungsjahr 1492lxxvii. Auch die getauften, die christlichen, Juden verfolgte man also und vertrieb sie, folterte und tötete sie, und zwar ausdrücklich im Namen der „limpieza de sangre“lxxviii, der „Reinheit des Blutes“, im Namen eines rassistischen Antisemitismus mithin.
Mein Schlußresümee aus alledem ist: eine furchtbare Zukunft wird nur dann vermeidbar sein, wenn wir nicht der vergangenheitsinformierten Konfrontation mit der Gegenwart aus dem Wege gehen, wenn wir also das Vermeiden der Analyse von damals und heute vermeiden! Ohne diese Fähigkeit zum Erschrecken in der Gegenwart – und unsere Gegenwart gibt Anlässe zum Erschrecken genug! – gibt es keinen Schutz vor einer erschreckenden Zukunft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke Euch für Eure Aufmerksamkeit!
Schwierigkeiten bei der vergangenheitsbezogenen Analyse der Gegenwart / Holdger Platta ©
Ein Gasbeitrag von Holdger Platta. Gastautoren spiegeln nicht unbedingt die Meinung des Blogbetreibers wieder.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
um gar nicht erst Zweifel aufkommen zu lassen, erkläre ich gleich zu Beginn dieses Vortrags, daß hinter dem Thema, das ich in der folgenden Stunde zu behandeln gedenke, noch ein zweites Thema steckt.
Nein, ich werde mich nicht nur mit der Frage beschäftigen, wie es mit dem Erinnern heute ganz allgemein aussieht. Das spezielle Thema hinter dem Thema lautet vielmehr:
Gibt es Entwicklungsprozesse im heutigen Deutschland, die uns denken lassen an die Endphase der Weimarer Republik und an das Dritte Reich? Und: ist es nicht nur möglich, Vergleiche anzustellen zwischen dieser Vergangenheit mit unserer Gegenwart, sondern könnte dieses Vergleichen sogar erforderlich sein – und zwar erforderlich gleich aus einem doppelten Grund:
sachlich, weil eine derartige Diagnose – jawohl, es gibt Entsprechungen zwischen damals und heute – auch einer Prognose gleichkommen könnte und weil
zweitens und in ethischer Perspektive diese Diagnose mithin eine dringliche Warnung vor einer humanitären Katastrophe enthielte.
Die Frage hinter meiner Frage lautet daher: gibt es – jawohl, ich riskiere dieses Wort! – Refaschisierungstendenzen in der Bundesrepublik, und diese Refaschisierunstendenzen bedrohen womöglich schon jetzt die humane Integrität der Bundesrepublik?
Eines dürfte wohl unzweifelhaft sein: die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Grundrechtekatalog stellt historisch nicht nur die politische Antwort dar auf das Dritte Reich, sondern diese politische Antwort hatte auch eine klare ethische, eine eindeutig humane Dimension. Faschismus, das war – und ist bis heute – nicht nur ein immens wichtiger Sachbegriff, Faschismus ist auch ein Wertungsbegriff. Faschismus, das ist nicht nur ein Begriff aus der Regimenlehre, nicht nur eine wertungsneutrale Kategorie zur Kennzeichnung bestimmter Gesellschaftssysteme, sondern ein Begriff der Kritik, der sich eng auf die Naturrechtsinteressen der Menschen stützt und bezieht. Faschismus war und ist in dieser Hinsicht stets auch gerichtet gegen die Maximen der Menschenwürde und der Menschenrechte schlechthin. Freilich, ich füge hinzu:
Um so wichtiger wird es deshalb auch sein, beides voneinander zu unterscheiden: die sachliche von der ethischen Dimension. Es geht nicht um ein Entweder-Oder, es geht um ein Sowohl-Als auch. Was also hat es mit der Vergleichbarkeit/Unvergleichbarkeit der Bundesrepublik mit der Endphase der Weimarer Republik und den Anfängen des Dritten Reichs auf sich – sachlich wie ethisch gefragt?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht überrascht es Sie ja: mein Vortrag setzt inhaltlich ein mit einer Verteidigung unserer Kanzlerin Merkel. – Angela Merkel hatte im August des vergangenen Jahres das Sarrazin-Buchi mit den Worten kritisiert, daß diese Publikation „nicht hilfreich“ii sei. Diese zarte Immerhin-doch-Distanzierung bedachte der Journalist Henryk M. Broder daraufhin, in der Sendung „Maybrit Illner“ am 2. September 2010 mit dem Satz: wenn „eine nicht für die Abgabe literarischer Urteile gewählte Kanzlerin ein Buch als nicht hilfreich“ bezeichne, grenze das „an die übelste Tradition der Reichschrifttumskammer des Dritten Reichs.“iii Nicht nur der anwesende Grünen-Chef Cem Özdemir empfand diesen Vorwurf als „absurd“.iv Ich komme darauf noch zurück. Vorher noch weitere Beispiele für Bewertungen der Gegenwart, die sich unverkennbar auf unsere faschistische Vergangenheit beziehen.
Am Montag, den 27. Oktober 2008 – die weltweite Finanzkrise hatte einen ersten Höhepunkt erreicht –äußerte sich der Münchener Wirtschaftswissenschaftler und Ifo-Chef Hans-Werner Sinn in einem Interview mit dem Berliner „Tagesspiegel“ folgendermaßen: man habe mit den „persönlichen Angriffen“ auf Bankmanager „nur Sündenböcke“ gesuchtv. Und im weiteren Text wörtlich: „Damals“ – gemeint ist die erste große Weltwirtschaftskrise der Jahre 1929 folgende – „Damals hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager.“vi Auch hierauf gab es entsetzte Reaktionen in der Öffentlichkeit – doch später mehr dazu. Hier zunächst noch Beispiel Nummer drei für „vergangenheitsbezogene“ Einschätzungen der Gegenwart. Ich spreche nun von unserem Bundespräsidenten Christian Wulff.
Dieser Politiker – damals noch niedersächsischer Ministerpräsident – äußerte sich keine zehn Tage später nach dem Statement des Ifo-Chefs Sinn ganz im Sinne von Sinnvii: in der N24-Talkshow „Studio Friedman“ stellte sich Wulff mit dem folgenden Satz vor die weltweit in die Kritik geratenen Manager (Michel Friedman hatte den CDU-Politiker im übrigen nach dessen Verständnis von Gerechtigkeit gefragt):
„Ich finde, wenn jemand 40 Millionen Steuern zahlt und Zehntausende Jobs
schafft, dann muss ich nicht gegen den eine Pogromstimmung entwickeln,
sondern dann kann ich sagen, er leistet einen wesentlichen Beitrag zu
unserem Land und zu unserem Gemeinwesen.“viii
Am Donnerstag, den 6. November 2008, war das, drei Tage vor dem Gedenktag an die nazistischen Pogrome im Jahre 1938, an jenen Abend und jene Nacht also, da in Deutschland die Synagogen brannten, Hunderte von Juden ermordet, Tausende von Juden gefoltert und Zehntausende von Juden darauf des Landes vertrieben wurden.
Auch hier reagierte unter anderem der Zentralrat der Juden in Deutschland und forderte den Rücktritt des Ministerpräsidenten Wulffix, auch hier gab es – soll man sagen: selbstverständlich? – eine Entschuldigungx wie im Falle Hans-Werner Sinnxi, auch hier wurde dabei eine geschichtstotalisierende Behauptung aufgestellt, die „fragwürdig“ zu nennen eher eine fragwürdige Beschönigung ist. Hatte Sinn in seinem „Offenen Brief“ an den Zentralrat der Juden geschrieben:
„Die Suche nach vermeintlich Schuldigen führt stets in die Irre.“xii
- - man fragt sich: gilt das auch für Hitler, für Eichmann, für Höß, und gab es
bei dieser Krise keine Akteure? – Standen wir also bei diesem Wirtschaftsgeschehen vor einer Krise ohne Personal? Das Spielcasino war menschenleer gewesen? - - - Während Ifo-Chef Sinn also das Wirtschaftsgeschehen in die Anonymisierung schickte, verstieg sich Wulff in seinem Totalrückzug zu dem folgenden Satz:
„Nichts kann und darf mit der Judenverfolgung und den schrecklichen
Pogromen gegen die Juden verglichen werden…“xiii
Nichts, wirklich nichts? – Doch hier zunächst eine andere Frage, bevor uns das Wulff-Zitat beschäftigen wird. Wieso kommt es im Kontext mit deutscher Schuld im Dritten Reich immer wieder zur Erforderlichkeit von Entschuldigungen im Nachkriegsdeutschland? Psychoanalytisch betrachtet, könnte man von einem Wiederholungszwang sprechen, der sich da geltend macht, von einem Vorgang also, der die Betroffenen nötigt, immer wieder eine Vergangenheit zu rekonstellieren, die doch eigentlich abgewehrt werden soll. Man reiht sich mit Bemerkungen wie denen von Wulff und Hans-Werner Sinn gleichsam auf der Opferseite ein und entlastet sich damit - als Nachfolgegeneration der Eltern auf der Täterseite - von dem Druck, der auf einem selber noch liegt. Und beschwört gerade dadurch ein weiteres Mal die Entfremdung von den jüdischen Opfern damals herauf. Aber: es gibt eine Erklärung dafür, die einfacher ist und auf die ich später zurückkommen werde. Hier sei zunächst einmal das Folgende festgestellt:
Selbstverständlich liegen alle genannten Personen mit ihren Äußerungen falsch. Die äußerst zurückhaltende Kritik der Kanzlerin an dem Sarrazin-Buch in die „übelste“ Tradition der nazistischen „Reichsschrifttumskammer“ zu stellen, kommt einer Äußerung aus dem Tollhaus gleich. Die Reichsschrifttumskammer des Naziregimes hatte vor allem die Aufgabe, unliebsamen, vor allem jüdischen, SchriftstellerInnen den Weg zur Veröffentlichung ihrer Bücher zu versperren, diese Kammer organisierte also reichsweit das Berufsverbot für sogenannte „Feinde“ des Regimesxiv. Wo, bittteschön, hätte das Merkel getan? Sie hat ein Buch kommentiert, recht zaghaft zudem, das Alfred Grosserxv, der deutsch-französche Politologe, am 9. November 2010 in der Frankfurter Paulskirche als „sozialrassistisch“ bezeichnet hatxvi. Ganz gewiß stand Angela Merkel in diesem Falle ideologisch nicht auf der Seite der Faschisten von einst, sondern hatte Gegenposition bezogen zu deren Ideologie. Mit anderen Worten: hier wurde durch Broder ausgerechnet einer antifaschistischen Selbstpositionierung Faschismus unterstellt. Broder mag äußerst „scharfzüngig“ sein; „scharfsinnig“ war Broder in diesem Fall nicht. Mit seiner spitzen Zunge bediente er hier lediglich die stumpfesten Ressentiments. Und kennt sich offenbar beim Unterschied zwischen Zensur und Zensuren nicht aus.
Und was die Herren Sinn und Wulff betrifft: diese stellten sich bei ihrer Gleichsetzung von Managerschelte mit Judenverfolgung auch nicht gerade antifaschistischerweise auf die Seite einer machtlosen Minderheit. Ganz im Gegenteil: auch hier ging die Polemik mit der Macht! Verkehrung jedweder Antifaschismus-Tradition also auch hier! Rechter Alarmismus ist das, Alarmismus, der berechtigte Kritik an den Verursachern der Finanzkrise 2008 gleichsetzt mit Menschenvernichtung, Alarmismus, der ein Grundmerkmal der Demokratie – die Meinungsfreiheit nämlich und den freien Austausch der Kritik - identifiziert mit den furchtbarsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Was hinter diesen Zuschreibungen „Reichsschrifttumskammer“, „Pogromstimmung“ und „Judenverfolgung“ steckt, ist also nichts weniger als die Illegalisierung jeglicher Kritik. Nicht Illegalisierung mithilfe des Strafgesetzbuchs, aber Illegalisierung mithilfe propagandistischer Tricks, die suggestiv grunddemokratisches Geschehen des Kritisierens in eins setzen mit Berufsverboten, mit Synagogenverbrennung und Massenmord. Schlimmer kann ein Delegitimieren von Kritik an Managern oder am Sozialrassimus eines Buches nicht aussehen. Das aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist meines Erachtens noch längst nicht der ganze Skandal: in der Tat wird, wie unter anderem der Zentralrat der Juden in Deutschland zu diesen Gleichsetzungen festgestellt hat, das Geschehen im Dritten Reich mit solchen Äußerungen auch bagatellisiert, werden die Opfer von damals „beleidigt“ (so Stephan Kramerxvii, der Geschäftsführer des jüdischen Zentralrats im Oktober 2008) und „verhöhnt“ (so die Linken-Politikerin Petra Pau zu diesen Entgleisungenxviii). Und nicht zuletzt:
Bei all diesen propagandistischen Mißbräuchen der Shoa kann nicht einmal entferntest von ernsthafter Analyse der Geschehnisse damals und heute die Rede sein. Die Dummheit all dieser Äußerungen wird deswegen auch nur von einem noch übertroffen: von dem völligen Mangel an Empathie in die Opfer von einst. Zu billigsten Aggressionszwecken werden die NS-Verbrechen instrumentalisiert. Es gilt, die sogenannten ökonomischen „Eliten“ abzuschirmen vor jeglicher Kritik bzw., im Falle Sarrazin, Schützenhilfe zu leisten für eine Person, die nicht nur eine ganze Religionsgemeinschaft – den Islam – in eine üble Stigmatisierungskampagne hineinzuschreiben versucht hat, sondern die Armen und die Zwangsarbeitslosen in unserer Gesellschaft gleich mit. Ein Beispiel nur: für noch gefährlicher als die Moslems, so Sarrazin in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“, halte er – Zitat – „die Besitzlosen und Leichtsinnigen, die häufig genug noch durch Laster aller Art hinabgezogen werden.“xix Also: diesen Menschen geht es nicht nur schlecht, diese Menschen sind auch schlecht. Grossers Kommentar dazu, in der erwähnten Paulskirchenrede aus dem letzten Jahr:
„Ich dachte, diesen Rassismus gebe es nicht mehr seit der Mitte des 19.
Jahrhunderts.“xx
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist klar: dieser Art des Vergleichens – mehr noch: Gleichsetzens – geht kein wirkliches Erinnern voraus. An die Stelle rationaler Argumentation rückt diese Polemik die absurden Konterbehauptungen:
Wer Mächtige kritisiert, ist ein Antisemit!
Wer Sozialrassismus zurückweist, ein Faschist.
Man faßt es nicht und fragt: wie ist es um eine Gesellschaft bestellt, in der solches möglich ist? Und: was hat es mit der bundesdeutschen Medienwelt auf sich, die solchen Diffamierungsversuchen beste Druckseiten und Sendezeiten zur Verfügung stellt, die Kritik daran aber in kleine Blätter und späte Nachtprogramme verbannt?
Dieser „Antifaschismus“ geht auf die Bevölkerung los, nicht auf die herrschenden Personen in Wirtschaft und Politik, er geht um so stärker auf die Bevölkerung los, je macht- und einflußloser sie ist, und dieser „Antifaschismus“ stürzt sich dabei nahezu ausschließlich auf die angeblich faschistische Mentalität seiner Gegner. Kurz: wir haben es bei all diesen Äußerungen mit Subjektivierungstricks zu tun, die den Blick ablenken sollen von den objektiven Problemen des heutigen Gesellschaftsgeschehens. Um es mit einem Wort zu benennen, das vor Jahrzehnten Klaus Theweleit in die bundesdeutsche Faschismus-Debatte eingebracht hat, in seinem Buch über die „Männerfantasien“ (1977/78)xxi: die Probleme der Gesellschaft und Politik, die zu lösen sind, werden „umcodiert“. Aus der Frage „Kapitalismus ja oder nein?“ wird die Frage „Wie gierig sind die Banker/Manager?“ – und am Ende lautet die Antwort „Gierig sind wir alle!“ – wie zum Beispiel in der Plasberg-Talkshow zu diesem Thema am 20. Januar 2010 (= „Genug ist noch zu wenig – Warum regiert die Gier?“). Und da diesem psychologischen Befund noch das Aussagepaar hinzugefügt wird: „Gierig waren wir immer schon, gierig werden wir immer sein!“xxii, ist das ökonomische System völlig aus dem Schneider. Wir haben es mit einer anthropologischen Konstante zu tun. Die Finanzkrise 2008 Folgende war also ein Betriebsunfall unserer Biologie, nicht des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Um an dieser Stelle den nach wie vor gültigen Satz von Max Horkheimer zu zitieren, aus seinem Aufsatz „Die Juden in Europa“, verfaßt 1939xxiii: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, der sollte auch vom Faschismus schweigen.“xxiv
Damit ist ausgesagt, von welchem Faschismus-Verständnis ich ausgehe und welches Faschismus-Verständnis diesem Vortrag zugrundeliegt: Faschismus ist ein Krisenprodukt des Kapitalismus, der in Deutschland aufkam, als es mehr und mehr Menschen sozioökonomisch schlechtging; Faschismus wurde finanziert und an die Macht intrigiert unter anderem von Vertretern der Rhein-Ruhr-Schwerindustrie. Und da sich in anderen Ländern Europas – in Ungarn, Österreich, Polen zum Beispiel – unter den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise ähnliche Rechtstendenzen entwickelten, da sozioökonomischer Verfall und Aufstieg von Rechtsparteien wieder und wieder – genau in dieser Verschränkung - auch das Geschehen nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmte, läßt sich mit einigem historischen Recht der Satz formulieren: der Kapitalismus birgt unablässig in sich die Faschisierungsgefahr. Kommt zu einer bestimmten Psychologie
die Angst vor dem eigenen materiellen Abstieg hinzu,
sehen sich diese Menschen verraten von den etablierten Parteien
und zu wenig geschützt von der Demokratie,
dann droht in bestimmten Bevölkerungsschichten bei Menschen mit einer bestimmten Mentalität fast zwangsläufig das Abdriften nach rechts. Vor allem die Forschungen des Bielefelder Pädagogen und Gewaltforschers Wilhelm Heitmeyer und seines Teams sind dabei seit Jahren von besonderem Interessexxv.
Zunächst: ganz ausdrücklich bestätigte mir die Mitarbeiterin an diesem Forschungsprojekt, Beate Küppers, daß sich die Bielefelder Experten in der Nachfolge sehen zu den Studien, die in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre von Adorno und anderen zur Psychologie des „Autoritären Charakters“xxvi vorgenommen worden sindxxvii. Das Bielefelder Forschungsprojekt zur Analyse des von dem Heitmeyer-Team so benannten Einstellungssyndroms „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, abgekürzt GMF, geht zurück auf das us-amerikanische Vorbild und erfaßt, wie die damaligen Studien auch, die folgenden Teilmomente dieser charakterlich-ideologischen Grundstruktur: Rassismus und Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Abwertung von Obdachlosen, Diffamierung von Homosexuellen, Behinderten und Langzeitarbeitslosen, die „Einforderung von Etabliertenvorrechten sowie Islamophobie und Sexismus“xxviii. Und damit bin ich auch an einem ganz entscheidenden Punkt meines Vortrags, an jenem Punkt, der als das affektiv-ideologische Grundmotiv jedweder faschistischen Bewegung formuliert werden kann: faschistische Psychologie, faschistische Ideologie sowie faschistische Praxis gehen von einer zentralen Grundauffassung aus – „von der Ungleichwertigkeit der Menschen“xxix, einer Grundauffassung, die dann zur faschistischen Gefährdung wird, wenn sie ganze Bevölkerungskreise ergreift und einhergeht mit dem Bestreben und der Praxis, die Menschenrechte außerkraft zu setzen und zu beseitigen. Durchaus nicht die Menschenrechte aller Individuen, aber die Grundrechte eines jeden Menschen, der auf diese Liste der zu bekämpfenden Feinde gerät. An dem einen oder anderen Merkmal des Faschismus mag sich dabei durchaus etwas ändern, an der Substanz dieses Fühlens, Denkens und Handelns ändert sich nichts. Ich konkretisiere hier beides kurz, Merkmalswandel und Konstanz der Substanz:
Zweifellos nahm bei sämtlichen früheren Faschismusbewegungen der Nationalismus einen der vordersten Plätze ein: zum deutschen Faschismussyndrom zählte zum Beispiel ohne Frage der Haß auf die Franzosen, der Haß auf die Polen (um nur diese Nationen zu nennen). Der zeitgenössische Faschismus fühlt und denkt und handelt hingegen immer stärker in europäischen Kategorien. Es gibt immer stärker einen nationenübergreifenden Eurofaschismus, der das Goebbels-Schlagwort von der „Festung Europa“ in den Vordergrund rückt und den alten, den nationalistisch-verengten, Ethnozentrismus mehr und mehr beiseitgeschoben hat. Freilich: Ethnozentrismus bleibt dieses gleichwohl! Und Beispiel zwei: der neue Rechtsextremismus bei uns geht nicht mehr mit gleicher Intensität wie früher auf die jüdischen MitbürgerInnen los, sondern hat aufs deutlichste die Zwangsarbeitslosen und die Muslime an deren Stelle gerücktxxx. Aber auch dieser „Feindesaustausch“ ändert am faschistischen Charakter dieser Grundeinstellung nichts. Was bedeutet: wer diese Veränderungsprozesse verkennt, steht allzusehr in Gefahr, die neuen Versionen des Faschismus zu übersehen.
Damit an dieser Stelle kein Mißverständnis entsteht: das Forscherteam um den Bielefelder Wissenschaftler Wilhelm Heitmeyer erliegt den Gefahren dieses geschichtlich-verengten Blickes nicht. Zwar vermeiden die Bielefelder Wissenschaftler in ihren Veröffentlichungen zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichtkeit“ (GMF) die Faschismus-Vokabel, aber in der Sache ist die Sache klar: es gibt wieder Faschismus in der Bundesrepublik, und es gibt Faschismus durchaus nicht nur oder vorrangig dort, wo wir ihn gemeinhin unterzubringen pflegen, bei NPD, rechtsextremistischen Kameradschaften und Skinheads. Es macht sich in der Bundesrepublik Deutschland vor allem ein Faschismus breit – die Bielefelder Studien zeigen dies – außerhalb seines überkommenen Bewegungsbereichs, er macht sich breit in der Bundesrepublik in offizieller Regierungspolitik und offiziellen Regierungskampagnen, er macht sich breit in den Veröffentlichungen renommierter Buchverlage und in Tageszeitung mit Bestauflagen wie „BILD“, FAZ und WELT – um nur diese Blätter stellvertretend für andere zu nennen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, an dieser Stelle ein kurzes Zwischenresümee:
Ich habe zeigen können – so hoffe ich jedenfalls -, daß es völlig falsche Faschismus-Warnungen geben kann; die Äußerungen von Broder, Wulff und Sinn waren nur Exempel dafür. Ich habe – so hoffe ich jedenfalls – zu zeigen vermocht, daß es präziser Analyse bedarf, die prinzipiell Parallelen wie Unterschiede (Wandlungsprozesse) erfaßt, um Neuauflagen des Faschismus erfassen zu können. Und trotzdem, so vermute ich, läßt uns ein Unbehagen immer noch nicht los: übertreiben wir – bei aller Präzisierung und Differenzierung – nicht dennoch bei unserer Vergleichsdiagnostik, mit dem Gebrauch des Wortes „Faschismus“?
Nun, ich könnte mich natürlich zu retten versuchen mit der genialen Formulierung von Ernst Blochxxxi: ich hätte mit meinen Aussagen heutige Realitäten lediglich „zur Kenntlichkeit entstellt“. Und dieses sei so legitim wie erforderlich. Aber so leicht will ich es uns nicht machen – weder Ihnen noch mir! Noch nämlich, so meine ich, habe ich wirklich belastbares Material nicht vorgelegt, das diese Besorgnis plausibel zu machen vermag, die Besorgnis, daß sich in der Bundesrepublik ein neuer und neuartiger Faschismus auszubreiten beginnt. Wovon spreche ich?
Ich spreche von Hartz-IV, von einer seit 2005 konsequent betriebenen Politik der Sozialstaatsvernichtung in der Gestalt von Gesetzen, Verwaltungshandeln und Begleitagitation. Ich spreche von einer Politik, die ein Interviewpartner von mir, ein sogenannter Alg-Zweier, vor einigen Jahren auf die Formel gebracht hat: „Hartz-IV, das ist Menschenverachtung in Euro und Cent.“xxxii
Feststellung eins: mit Hartz-IV sind Menschen, die ohne eigenes Verschulden arbeitslos geworden sind, nicht nur in die Armut herunterreglementiert worden, sondern in ein Leben weit unterhalb des Existenzminimums. All das, was das Bundesverfassungsgericht vor fast genau einem Jahr, am 9. Februar 2010xxxiii, noch einmal als unaufhebbare Pflichtaufgaben des Staates im Sinne der Menschenwürde (Artikel Nummer eins unseres Grundgesetzes) aufgeführt hat, all das bleibt die Bundesrepublik seit dem 1. Januar 2005 den Zwangsarbeitslosen, den „Aufstockern“ und den Armutsrentnern schuldig: es wird nicht mehr die physische Existenz der betroffenen Menschen sichergestelltxxxiv; es wird nicht mehr deren soziokulturelle (und übrigens auch: politische!) Teilhabemöglichkeit sichergestelltxxxv; es wird nicht mehr sichergestellt, was das Bundesverfassungsgericht als Möglichkeit „zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen“xxxvi bezeichnet hat. Gern erläutere ich Ihnen das alles im anschließenden Gespräch mündlich.
Feststellung zwei: damit hat der Staat Bundesrepublik Deutschland quälendes Leid über Millionen von Menschen gebracht. Damit hat dieser Staat krankmachende Aussonderungsprozesse der Zwangsarbeitslosen in Gang gesetztxxxvii. Wer im „Regelsatz“ keinen Euro und Cent für Verwandtenbesuche eingeplant hat, wer den Zwangsarbeitslosen keinen Euro und Cent für Geburtstagsgeschenke an Freunde und für Bewirtungskosten für Freunde und Verwandte zugestehen mochtexxxviii, betreibt Zwangsisolation der betroffenen Menschen.
Feststellung drei: Wer der Bürokratie schon bei kleinsten Verfehlungen der Zwangsarbeitslosen, Aufstocker und Armutsrentner schärfste Sanktionsrechte einräumt – konkret: Kürzung des Regelsatzbetrages bis hinunter auf Null! -, der spielt mit dem Leben dieser Menschen. Was per definitionem durch den Staat Grundsicherung im Sinne von „Existenzminimum“ ist, das darf nicht unterschritten werden, weil damit das Mittel der Strafe per definitionem dieses Gesetzeswerkes die Sanktion Existenzvernichtung istxxxix. Mit Hartz-IV wurde dieses sadistische Bestrafungsrecht gegenüber Hilfebedürftigen aber Recht und Gesetz, und seit dem 1. Januar 2005 wird dieses Gesetz – das natürlich kein Recht ist! – von den Behörden auch wieder und wieder exekutiert. Was im Strafrecht wie im gesamten Rechtswesen der Bundesrepublik sonst nach wie vor rechtsgültiger Rechtsgrundsatz ist, das sogenannte „Übermaßverbot“xl, das selbst bei schwersten Verbrechen einzuhalten ist, das ist für die Ärmsten der Armen in der Bundesrepublik seit dem 1. Januar 2005 außerkraft gesetzt.
Um den Maßstab meines gesamten Vortrags heranzuziehen – den Maßstab Humanität, klar definiert in den Artikeln der UNO-Menschenrechts-Chartaxli: was da als Gesetzeswerk zum 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, das ist Faschismus der Legislative und Faschismus der Bürokratie. Das ist „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (GMF) in der Gestalt von leidenschaftslosen Paragraphen und ihrer leidenschaftslosen Behördenexekution an den betroffenen Menschen seit nunmehr gut einem halben Jahrzehnt. – Weder läßt diese Gesetzgebung aktive Mitgliedschaft in Vereinen, Gewerkschaften und Parteien zu noch freie Wahl des eigenen Aufenthaltsortes, weder Teilnahme an Demonstrationen noch das Abo einer Tageszeitung oder die Nutzung eines eigenen Telefon- und Internetanschlusses. Durch staatlichen Geldentzug wurden für Millionen von Hilfebedürftigen in der Bundesrepublik die entsprechenden Grundrechte außerkraft gesetzt bzw. deren Wahrnehmungsmöglichkeit wegreguliert. Was mich zu der letzten Feststellung, der Feststellung Nummer vier bringt.
Die Gesetzgebung mit dem Propagandatitel Hartz-IV kommt über weite Strecken hinweg und de facto einer Rechtlosstellung der betroffenen Menschen gleich, einer Illegalisierung, die in vielerlei Hinsicht den Etappen der Rechtlosstellung ähnelt, die ab dem 17. Februar 1933 die Juden in Deutschland erdulden mußtenxlii. Auf dem fiskalischen Weg des Geldmittelentzuges wurde seit dem 1. Januar 2005 ein Sonderrecht für die Hilfebedürftigen in der Bundesrepublik eingeführt, das deren Grundrechte zu großen Teilen außerkraftsetzt, ein Sonderrecht, das die Betroffenen der Befriedigung grundlegender Lebensbedürfnisse beraubt, der Realisierung sozialer, politischer und kultureller Teilhaberechte. Um es an einem Beispiel zu veranschaulichen, das man als läppisch empfinden mag:
Am 12. November 1938 wurde per Anordnung der Reichskulturkammer allen Juden der Besuch von Theatern, Kinos, Konzerten und Ausstellungen untersagtxliii. Fast möchte man fragen: so spät erst? Dies alles aber ist den Zwangsarbeitslosen und Armutsrentnern in der Bundesrepublik ebenfalls verwehrt, und zwar durch schieren Geldentzug. Das Menschenverelendungsgesetzeswerk Hartz-IV erfüllt insofern viele Funktionen, die im Dritten Reich die Sondergesetzgebung für die Juden erfüllte. Aber: ist das schon alles? – Nein, das ist längst noch nicht alles! Und damit komme ich zur Begleitpropaganda zu Hartz-IV. Ich war genötigt, eine Auswahl zu treffen, deswegen nur einige wenige Beispiele aus dem Bereich der Menschenhetze gegen die sogenannten „Unproduktiven“, wie Peter Sloterdijk seit seinem FAZ-Artikel vom 13. Juni 2009 die unverschuldet arbeitslos gewordenen Hilfebedürftigen gerne nennt (= im Aufsatz „Die Revolution der gebenden Hand“).
Doch auch zu diesem kleinen Katalog der Menschendiffamierungen eine wichtige Bemerkung vorweg:
Es fällt auf, daß alles, was ich im Folgenden zu zitieren habe, zumeist völlig emotionsfrei vorgetragen wird. Wir haben es, sozusagen, mit einem Faschismus der guten Manieren zu tun, wir hören kein Hitlergeschrei und kein Goebbels-Gebrüll, sondern einen eiskalten, einen „coolen“ Faschismus, einen Faschismus der neuen ‚Sachlichkeit’ oder Gefühllosigkeit. Diese Menschenfeinde vom zeitgenössischen Faschismus hassen nicht, sie meinen nur. Man sieht sich erinnert an Herbert Marcuses Thesen zur „Psychologie der Neutralität“xliv – einer Neo-Variante der faschistischen Psychologie – sowie an die Aussagen von Adorno und Michaela von Freyholdxlv zum „potentiell gefährlichsten“xlvi Typus des „Autoritären Charakters“, an den „manipulativen Typus“xlvii. Es ist der Typus des Technokraten, des Technokraten ohne Fähigkeit zur Objektbeziehung, des Vertreters eines „administrativen Sadismus“xlviii. Diese Menschen, so Adorno, „interessiert die Konstruktion von Gaskammern, nicht das Pogrom“xlix, ihr Sadismus ist von „analem Charakter“l, dessen Hauptzug das Nicht-Weggeben-Können. Deswegen, wie vorhin dargelegt, beruht auch die Menschenfeindlichkeit der Hartz-IV-Gesetze und ihres Exekutierens auf einer totalen Fiskalisierung der Menschenbeziehung bzw. auf einer Art Monetarisierung der Menschenfeindlichkeit. Der Austausch von Begriffen wie „Hilfebedürftige“, „Arme“, „Arbeitslose“ – alles Begriffe, in denen der notleidende Mensch noch anwesend ist – gegen Begriffe wie „Kunden“, „Leistungsbezieher“ oder „Massentransfernehmer“ (so Sloterdijk in dem Aufsatz, aus dem bereits zitiert worden istli), gegen Bezeichnungen also, aus denen die Menschennot entfernt worden ist und nur noch das Ansprüchehaben und Geldnehmen zu Worte kommt, signalisiert das aufs deutlichste. Aus Menschenbeziehung macht dieser Begriffeaustausch ein bloßes Geldverhältnis. „Elend“ gibt es in dieser Sprache nicht mehr, nur noch ein Wegnehmenwollen. Kein Zufall daher, daß eben dieser Sloterdijk unser Gemeinwesen als „Staatskleptokratie“lii bezeichnet hat, als Herrschaft des Klauens, und zwar lediglich deshalb, weil der Staat Steuern einnimmt und sie unter anderem für soziale Zwecke verwendet; kein Zufall auch, daß eben dieser Sloterdijk gegen diese Geldwegnehmerei zum „fiskalischen Bürgerkrieg“liii aufgerufen hat. Doch damit, endgültig, zu meinen Belegstücken der Begleitpropaganda zu Hartz-IV:
Geradezu „klassisch“, „klassisch“ im Sinne einer überkommenen Faschismus-Terminologie, ging es zunächst mit Wolfgang Clement los: im Herbst des Jahres 2005 startete der SPD-Bundesminister für Arbeit und Soziales seine „Parasitenkampagne“ gegen die ALG-II-BezieherInnen in der Bundesrepublikliv. Unter Wiederaufnahme eines zentralen Entmenschlichungsbegriffs aus Adolf Hitlers „Mein Kampf“lv rief er die bundesdeutsche Politik und Bevölkerung zur Schädlingsbekämpfung auf. Nicht nur der historischen Erfahrung wegen lauert deutlich erkennbar hinter dieser Biologisierungsmetapher „Parasiten“ die Vernichtung der „Schmarotzer“ mit Chemie. Und erinnert sei auch daran, daß in wörtlicher Übersetzung das Wort „Kampagne“ nichts anderes als einen „Feldzug“ meint. Clements chemischer Feldzug gegen die Zwangsarbeitslosen in der Bundesrepublik blieb freilich ungesühnt. Obwohl ein Jungfunktionär der NPD aus dem Lahn-Dill-Kreis aufgrund dieses Begriffs „Parasiten“ – der hatte damit „die“ Ausländer in Deutschland gemeint – rechtskräftig wegen Volksverhetzung verurteilt worden ist, vom Oberlandesgericht in Frankfurt am Main am 15. August 2000lvi, mochte die Berliner Staatsanwaltschaft gegen Herrn Clement nichtmal ein Ermittlungsverfahren einleiten. Begründung: dieser Begriff zähle zur Normalsprache bundesdeutscher Politik und sei daher straffrei gestelltlvii.
Müntefering, der sozialdemokratische Parteichef, zog am 10. Mai des Jahres 2008 dann mit einer Interviewäußerung nach. In der ZEIT stand zu lesen, daß, wer nicht arbeite, auch nicht essen solle. Der praktizierende Katholik glaubte sich mit dieser Forderung nach dem Hungertod aller Zwangsarbeitslosen in der Bundesrepublik sogar durch die Bibel gedeckt – gedeckt durch den 2. Paulus-Brief an die Thessalonicher im Neuen Testament (siehe dort, Kapitel 3, Vers 10!). Münteferings Maxime also gleichsam mit göttlichen Weihen versehen? – Weit gefehlt! Erstens handelt es sich bei dieser zweiten Epistel des Apostel Paulus an die Thessalonicher um eine Fälschung – was ein praktizierender Katholik hätte wissen können. Zweitens hatte Müntefering aus dieser Fälschung falsch zitiert. Es heißt dort nicht: „Wer nicht arbeitet, soll nicht essen.“, sondern: „Wer nicht arbeiten will, der soll nicht essen.“ Was mehr als nur ein kleiner Unterschied ist – nämlich nichts weniger als der Unterschied zwischen Faulheit und unverschuldetem Untätigkeitszwang. Und drittens ist in diesem Bibelabschnitt nicht Lohnarbeit gemeint, sondern Gemeindearbeit, Gemeindearbeit in einer religiösen Kommune weitestgehend ohne Privateigentum (deswegen die Angewiesenheit aller auf die Mitarbeit aller).
Dies also das eine: hier zitiert einer scheinbar die christliche Bibel und kennt diese christliche Bibel nicht. Und das andere: wer die Logik dieses Satzes untersucht, kommt sehr schnell zu der Erkenntnis, daß er als präzise Quintessenz aus zwei anderen Sätzen gelten kann: aus dem Satz „Arbeit macht frei“lviii – soll heißen: Arbeit macht frei von der Gefahr, ansonsten des Hungers zu sterben - und aus dem Satz „Jedem das Seine“lix – was bedeuten soll: dem Tätigen Speis und Trank, dem Faulen das Verrecken durch Nahrungsentzug. Muß ich noch erwähnen, wo während der Endphase des Dritten Reichs diese beiden Vor-Sätze zu Münteferings Conclusio zu lesen waren – und heute noch dort zu lesen sind? – „Arbeit macht frei“ über dem Eingangstor zum Stammlager von Auschwitz, „Jedem das Seine“ über dem Eingangstor des KZs von Buchenwald? Ist das sozialdemokratische Fortsetzung der nazistischen Politik mit anderen Mitteln? – Jedenfalls kann man eines nicht machen: an der Todesdrohung der Müntefering-Maxime vorbeianalysieren!
Womit bereits ein zweites Mal, nach Clements Aufruf zum chemischen Ausrottungsfeldzug gegen die „Parasiten“, von Todeswünschen in der Begleitpropaganda zu Hartz-IV gesprochen werden muß. Aber es geht ja noch weiter:
Keine drei Monate später nach Münteferings Propaganda mit dem dreifach gefälschten Bibelzitat kamen zwei Wirtschaftswissenschaftler von der Technischen Universität Chemnitz mit einer Studie zum Geldbedarf der Arbeitslosen nieder: Anfang September 2008 legten Friedrich Thießen, Inhaber eines Lehrstuhls für Investmentbanking - eine Professur, die dort eingerichtet worden ist und gesponsert wird von der Commerzbank/Frankfurt am Main - und dessen Adlatus, ein Diplomkaufmann mit Namen Christian Fischer, der Öffentlichkeit Berechnungen vorlx, denen zufolge 132,- Euro – ich wiederhole: 132,- Euro – pro Monat genügen würden, um den gesamten Lebensbedarf eines ALG-II-Beziehers sicherzustellen. Besonders auffällig an diesem Zahlenmaterial – angeblich erhoben im Frühsommer des Jahres 2006: 68,- Euro plus 9 Cent pro Monat sollten ausreichend sein, den gesamten Lebensmittelbedarf eines Langzeitarbeitslosen abdecken zu können. Der beigefügten Warenlistelxi war zu entnehmen, daß den „Hartzern“ nur noch Leitungswasser zustehen solle, daß sie keinen Anspruch mehr hätten auf irgendwelche Gewürze – einschließlich Zucker und Salz -, keinen Anspruch auch auf Marmelade, Honig, Pflaumenmus, Butter oder Quark. Und meine eigenen Recherchenlxii ergaben dann, daß mittlerweile alle Preisangaben für die verbliebenen Nahrungsmittel auf dieser Schrumpfliste völlig veraltet waren. Resultat:
Mit diesen knapp 70,- Euro pro Monat hätten die Hilfsbedürftigen nur Zweidrittel ihres Essensbedarfs pro Monat absichern können, bei den Grundnahrungsmitteln Brot und Kartoffeln, Nudeln und Reis sogar nur zwei Wochen lang. Dies also sollte, den Chemnitzer Akademikern zufolge, den Zwangsarbeitslosen in der Bundesrepublik zugemutet werden: der langsame Hungertod, der über die Regelsatzkürzung sich schleichend realisierende Genozid. Ein weiteres Mal also konfrontiert uns das propagandistische Begleitprogramm zu Hartz-IV mit einer Menschenvernichtungsidee!
Womit ich auch bei der allerneuesten Variante solcher Planungen bin, und damit, meine Damen und Herren, begebe ich mitten hinein in Ihre Hansestadt und an Ihre bremische Universität: fast auf den Tag genau ein Jahr ist es her, daß Gunnar Heinsohn, bis Februar 2009 Professor für Sozialpädagogik an der Universität Bremen, die Begrenzung jedweder Form von Sozialhilfe auf maximal 5 Jahre gefordert hat. Am 9. Februar 2010 war das so in der WELT zu lesen, am 16. März 2010 dann auch in der FAZ. Fünf Jahre Sozialhilfe maximal! - Ja, und dann? Was nach dieser maximalen Fünfjahresfrist für die Hilfebedürftigen in der Bundesrepublik Deutschland? – Ab unter die Brücken oder gleich auf den Friedhof? – Liebe Kolleginnen und Kollegen, Hartz-IV ist heute über sechs Jahre in Kraft, rund 7,6 Millionen Menschen in der Bundesrepublik sind nach wie vor angewiesen auf Zahlungen vom Staatlxiii (die gefälschten Zahlen, die uns dank frisierter Statistiken allmonatlich vorgelegt werden, lasse ich hier selbstverständlich außeracht). Hätten diese Menschen, die zum größten Teil seit dem 1. Januar 2005 in dieser Notlage sind, im letzten Jahr also gefälligst den Abgang machen sollen, weil nach Heinsohns Ansicht die Frist für sie abgelaufen war? Und damit angesagt war das „sozialverträgliche Frühableben“ auf bremisches Geheiß?lxiv - Ein weiteres Mal stoßen wir vor zu einem Kern, der unfaßlich erscheint, gleichwohl existiert: Hartz-IV, das soll den genannten Propagandisten zufolge im Grunde nichts anderes sein als ein Masterplan für Massenmord. Im März des letzten Jahres schrieb ich dazu: „Ich weiß nicht, was mir größeres Grauen einflößt: dieser Aufruf zum Völkermord oder dieses furchtbare Schweigen im Land.“lxv Was mir größeres Grauen einflößt, meine Damen und Herren, weiß ich auch heute noch nicht.
Lediglich vier Beispiele habe ich Ihnen vorgeführt, zig andere wären noch zu nennen. Die Äußerungen eines Philipp Mißfelder etwa, vormals Vorsitzender der „Jungen Union“, heute Bundestagsabgeordneter und CDU-Präsidiumsmitglied, der auf einer Wahlkampfveranstaltung am 20. Februar 2009 in Haltern/Westfalen die These von sich gab, eine Erhöhung der Regelsätze für Kinder würde nur zu Absatzsteigerungen führen bei der Alkohol- und Tabakindustrielxvi. Das „nur“ stammt nicht von mir, meine Damen und Herren. Und ausgedrückt hatte Mißfelder mit dieser Verdächtigung gleich dreierlei:
die Zwangsarbeitslosen seien ein Haufen von Nikotinabhängigen und Alkoholikern,
sie würden bei einer Erhöhung der Regelsatzbeträge für Kinder nur den Staat betrügen und
den eigenen Nachwuchs gleich mit.
Ich könnte noch nachliefern die Bemerkung des vormaligen RCDS-Vorsitzenden Gottfried Ludewig aus der Anne-Will-Show vom 25. Mai 2008, die Forderung nämlich nach Halbierung des Wahlrechts für Zwangsarbeitslose. Und nicht zuletzt hätte ich an dieser Stelle auch noch die Bemerkungen eines weiteren Wissenschaftlers zitieren können, die Thesen des Honorarprofessors für Wirtschaftsphilosophie an der Universität Potsdam Gerd Habermann, der sich in der WELT am 30. Oktober 2010 dahingegend geäußert hat, die Würde des Menschen bestehe darin, daß er sich vom Tier unterscheide, und zur Würde eines Hilfebedürftigen, der Geld vom Staat annehme, gehöre es, sich dessen zu „schämen“. Das alles, meine Damen und Herren, hat mit Grundgesetz und Humanität natürlich nichts mehr zu tun und ist nichts anderes mehr als Ausdruck der schieren Menschenverachtung. – In allen diesen Fällen bleibt es bei demselben Resultat: mit Hartz-IV und seiner Begleitpropaganda hat auf massivste Weise die Menschenfeindlichkeit Einzug gehalten in unser Land, ein „Sozialrassismus“, wie Grosser das genannt hat, und wir alle stehen vor dem bestürzenden Paradox, daß seit einiger Zeit ausgerechnet „Sozialpolitik“ die Refaschisierung dieses Landes befördert. „Klassenkampf von oben“lxvii nennt das Michael Hartmann, Professor für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt; als „Verrohung des Bürgertums“, vor allem seiner sogenannten „Eliten“, bis in signifikant nachweisbare Gewaltbejahung und Gewaltbereitschaft hinein, hat das Team um den Pädagogen Heitmeyer diesen fortschreitenden und sich beschleunigenden Entwicklungsprozeß qualifiziertlxviii.
Dazu nur drei Zahlen aus dieser Studie vom letzten Jahr (= Sommer 2010):
Im Mittelwert aller Befragten stimmten 63,1 Prozent der Aussage zu: „Die sozial Schwachen müssen sich selber helfen.“lxix,
unter den Besserverdienenden (dem obersten Bevölkerungsdrittel) taten dies 68,3 Prozentlxx.
Und knapp 40 Prozent aller Befragten äußerten Zustimmung zu dem Satz: „Die meisten Langzeitarbeitslosen sind nicht wirklich daran interessiert, einen Job zu bekommen.“lxxi
Wobei nicht zuletzt das Folgende an all dem bemerkenswert ist: war es beim deutschen Faschismus der 20er und 30er Jahre so, daß erst jahrelang eine entsprechende Propaganda betrieben werden mußte, bevor das kongruente Staatshandeln nachziehen konnte, verhält es sich mit dem zeitgenössischen Faschismus, der mit der Hartz-IV-Politik Platz griff in unserem Land, eher umgekehrt: erst waren die Gesetze da und das bürokratische Staatshandeln gemäß dieser Gesetze, bis weit in die furchtbarste Fertigmache von Hilfebedürftigen hinein, dann erst machte sich die entsprechende Rechtfertigungspropaganda für diese menschenfeindliche Politik auf den Weg! Und inzwischen, so scheint mir, sind wir angekommen bei einem kreisförmigen Selbstverstärkungsprozeß dieser beiden Momente: staatliches Handeln – zum Beispiel das geplante Nikotin- und Alkoholverbot im neuen Regelsatz – befördert das korrespondierende Abwertungsdenken in der Bevölkerung, daß alle Zwangsarbeitslosen nur Süchtige seien, und ein wachsendes Abwertungsdenken in der Bevölkerung versorgt die Politik mit entsprechendem Zuspruch, der sie so weitermachen läßt.
Ich nähere mich damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, dem Schluß:
Ich denke, wir haben gesehen, daß uns Analyse der Vergangenheit auch die Gegenwart präziser verstehen läßt. Präzise heißt übrigens unter anderem auch: sachlich wie temporal nur das zu vergleichen, was miteinander vergleichbar ist: Wörter also mit Wörtern (siehe „Parasiten“), Bücher mit Büchern, Ideologeme mit Ideologemen, Gesetze mit Gesetzen, Mentalitäten mit Mentalitäten – dies einerseits; und andererseits: Anfangsphänomene mit Anfangsphänomenen, Aufstiegsphasen mit Aufstiegsphasen, reales Handeln mit realem Handeln. Wir haben gesehen, daß ein Vergleichen stets Entsprechungen und Differenzen zutagefördern kann. Dabei kann Faschismus durchaus Wandlungsprozessen unterworfen sein: alte Symbole und Riten werden abgeschafft, alte Ideologeme ausgetauscht gegen neue Momente der Ideologie, und bei seiner politischen Durchsetzung auch gänzlich andere Wege eingeschlagen, als das früher einmal der Fall war.
Wir sind dabei gehalten, bei diesem Erinnern und Analysieren, daß wir graduelle Unterschiede nicht unterschlagen, aber auch die substantiellen Entsprechungen nicht. Schließlich, so haben wir gesehen, ist die Frage nach dem richtigen Erinnern zwischen Alarmismus und Abwehr stets auch ein Bewertungs-, nie nur ein reines ‚Sach’problem. Was wäre das auch? Wer die Frage nach Faschismus stellt, stellt nicht nur eine akademische Frage, sondern stellt unserer Gesellschaft die Frage nach ihrer Humanität – und diese Mitmenschlichkeit, so hoffe ich, habe ich zeigen können, ist nicht angesiedelt in irgendeinem Wolkenkuckucksheim abstrakter Ideen, sondern sie läßt sich, nach jahrhundertelangem Kampf und geistigem Bemühen der Menschen um die Fragen des Naturrechts und der Menschenwürdelxxii, sehr präzise definieren mit dem Katalog der Menschenrechte, wie ihn die UNO am 10. Dezember 1948 völkerrechtsverbindlich beschlossen hat.
Die Frage danach, ob sich Geschichte wiederholen könne oder nicht, die Frage ob wir vor dem Wiederholungszwang von Geschichte uns sichern können, potentiell jedenfalls, indem wir fähig bleiben oder fähig werden für ein präzises Erinnern, beantworte ich also mit einem Votum, das eindeutig ist:
Nur wer bei der Vergangenheit klarsieht, kann auch bei der Gegenwart klarsehen. Nicht Marx hat in diesem Falle recht, der im ersten Satz seiner Arbeit über den achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte schrieb – unter Berufung auf seinen Philosophenvorgänger Hegel: „Die Geschichte wiederholt sich nicht, es sei denn, als Farce!“lxxiii, sondern, in diesem Fall, George Santayana, der spanisch-us-amerikanische Denker, dem der Satz zugeschrieben wird: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen“ (= „Those who cannot remember the past are condamned to repeat it.”lxxiv). Marx, der ja immer mal wieder auch Polemiker, nicht nur genialer Diagnostiker war, hat schlicht übersehen, daß es ein Gegenbeispiel zu seiner These seit Jahrtausenden gibt: den Antisemitismus. Was anderes stellt der Antisemitismus dar als die unselige Geschichte seiner Wiederholungen? Und wie könnte man, im Angesicht von Auschwitz, sagen: das sei nur Geschichtswiederholung gewesen in Gestalt einer Farce?
Nein, dieses magische Selbstschutzgesetz der Geschichte vor der Wiederholung des Bösen in ihr ist Spinnerei, sonst nichts. Der religiös motivierte Antisemitismus, der zu dem ersten großen Pogrom im Jahre 388 in Kallinikos führte (heute Ost-Syrien)lxxv, der wiederholte sich als religiös motivierter Antisemitismus noch vielfach in der Geschichte, während der Pestzeit zum Beispiel und in dem Aufruf Martin Luthers aus dem Jahre 1543, man solle alle Synagogen und Judenhäuser niederbrennen sowie die Juden selber vertreiben und für vogelfrei erklären, damals dasselbe wie ein Todesurteillxxvi. Und selbst den rassistisch motivierten Antisemitismus, der in Auschwitz seinen entsetzlichsten Gipfelpunkt fand, gab es mindestens schon einmal zuvor: im Spanien des 15. Jahrhunderts, mit der Vertreibung aller Juden – auch der christlichen Juden! – von der iberischen Halbinsel im Amerika-Entdeckungsjahr 1492lxxvii. Auch die getauften, die christlichen, Juden verfolgte man also und vertrieb sie, folterte und tötete sie, und zwar ausdrücklich im Namen der „limpieza de sangre“lxxviii, der „Reinheit des Blutes“, im Namen eines rassistischen Antisemitismus mithin.
Mein Schlußresümee aus alledem ist: eine furchtbare Zukunft wird nur dann vermeidbar sein, wenn wir nicht der vergangenheitsinformierten Konfrontation mit der Gegenwart aus dem Wege gehen, wenn wir also das Vermeiden der Analyse von damals und heute vermeiden! Ohne diese Fähigkeit zum Erschrecken in der Gegenwart – und unsere Gegenwart gibt Anlässe zum Erschrecken genug! – gibt es keinen Schutz vor einer erschreckenden Zukunft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke Euch für Eure Aufmerksamkeit!