Wie geht ein Tänzer mit einer Situation um, die nicht nur aktuell lebensbedrohlich ist, sondern die er schon beinahe sein ganzes Leben lang so empfinden muss? Wie kann man den israelisch-palästinensischen Konflikt zum Thema einer Performance machen? Was geschieht mit archiviertem Filmmaterial, in dem Aggressionen festgehalten wurden, die so oder ganz ähnlich nach wie vor ausgelebt werden? Kann man als der einen oder anderen Seite Zugehöriger dennoch einen Meta-Standpunkt einnehmen, ausbrechen aus seiner eigenen Verzweiflung und Wut? Kann man physische Gewalt überhaupt in einem kulturellen Surrounding vermitteln?
Arkadi Zaides hat in seiner Arbeit „Archive“ sich all diesen und noch wesentlich mehr Fragen gestellt und sie zu einer fulminanten, unter die Haut gehenden, schlüssigen Performance gebündelt. Zu sehen war diese am 23. April im Tanzquartier. Es war zugleich einer der Höhepunkte der diesjährigens Scores-Veranstaltung, die in Wien bereits zum 11. Mal stattfand. Der Choreograf und Tänzer wurde 1979 in der Sowjetunion geboren und emigrierte 1990 nach Israel wo er bis heute lebt. Seit dem Jahr 2006 erhielt er beinahe jährlich einen großen Preis, darunter 2014 den Emile Zola Chair for Human Rights.
Für „Archive“ benützte Zaides filmisches Material, das ihm von B’Tselem zur Verfügung gestellt wurde, dem israelischen Informations Zentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten. Dafür wurden freiwillige Palästinenser, die in den Brennpunktzonen wohnten, mit Kameras ausgestattet, um Übergriffe zu dokumentieren. Zaides suchte sich einzelne, aussagekräftige Szenen aus einem gigantischen Materialkonvolut heraus und projizierte diese auf eine große Leinwand auf der Bühne. Er selbst positionierte sich davor und nahm immer wieder bestimmte Positionen von Männern ein, die im Film zu sehen waren. Zuerst eingefroren, skulptural, später dann in Bewegung. Wieder später auch mit den Worten, Sätzen und Geräuschen, die seine Protagonisten von sich gaben. Was sich erst im Laufe der Performance herauskristallisierte, waren die vielen unterschiedlichen Schichten, die in dieser Arbeit ein ganzes Geflecht von Sinnzusammenhängen und Deutungsmöglichkeiten ergaben.
Durch die Dreidimensionalität, die Zaides mit seinem eigenen Körper dem filmischen Geschehen hinzufügte, bekamen die dokumentarischen Szenen eine aktuelle Realität. Mit seinem Auftreten wurde physisch erfahrbar, nachfühlbar, beinahe angreifbar, was in der Zweidimensionalität des Filmes selbst zwangsläufig immer flach bleibt. Jugendliche, die sich im Steine-Werfen üben, ein Polizist, der unter Deckung mit einem Maschinengewehr auf Menschen auf einem Dach zielt, ein Protestierender, der von der israelischen Polizei an Händen und Beinen davon geschleppt wird und, und, und. Das, was hier zu sehen war, war harter Tobak. Und ist bis heute Alltag im Gazastreifen. Zaides schlüpfte in die Rolle jenes Mannes, der Schafe von ihrer Herde vertrieb, aber auch in jene eines Jugendlichen, der nach und nach einen Stein nach dem anderen vom Boden aufhob, um ihn so weit und präzise wie möglich zu schleudern. Er wimmerte wie jener Junge, der völlig betrunken von einer Frau an Armen und Beinen festgehalten wird und er positionierte sich bedrohlich, sein Gesicht mit dem eigenen T-Shirt vermummt, vor dem Publikum.
ARCHIVE von Arkadi ZAIDES (c) Christophe RAYNAUD DE LAGESein Bewegungsvokabular spiegelte Aggression genauso wider wie Verzweiflung. Martialische Drohgesten und körperliche Schutzhaltungen, die sich bedingen, wurden von ihm in ein und denselben Körper transferiert und transformiert. Dabei wurde deutlich, dass nur eine tatsächliche physische Präsenz jenen Konflikt zumindest ansatzweise nachempfinden lässt, der im Nahen Osten ausweglos auch für die kommenden Generationen erscheint.
Das Geräusch-Looping, das er selbst live in die Elektronik einspielte, schwoll schließlich in einer Kakophonie von Schreien, Lauten, kurzen Sätzen und einzelnen Worten zu einer dichten, bedrohlichen Klangwelle an. Durch das Nachstellen und das Hineinschlüpfen in die Haltung von verschiedenen Aggressoren eignete sich Zaides deren historische Präsenz an einem bestimmten Tag und an einem bestimmten Ort an. Eine Aneignung, die im Grunde nichts Anderes ist als eine Art Bannzauber, wie er in der Menschheitsgeschichte seit Urzeiten immer wieder verwendet wurde. Eine transformierte, physische Einverleibung eines Gegenüber, von dem man am Ende der Performance nicht mehr wusste, auf welcher Seite dieses Gegenüber eigentlich stand. In den letzten Minuten blieb der Performer still vor dem Publikum, knapp vor der ersten Reihe stehen. Nur seine Augen suchten in der Menge Blickkontakt. In jenem magischen Moment verschwamm die Grenze zwischen Gut und Böse. Die Unterscheidung zwischen Angreifer und Opfer. Was blieb, war der Mensch, der Mann, sein Körper, seine Präsenz im Augenblick.