Still life with bread crumbs – so ist der Originaltitel dieses wundervollen Romans, in welchem es auch um Fotografie und um Stillleben geht. Irgendwie gefällt er mir besser, als der Titel der deutschen Übersetzung und tatsächlich dachte ich zuerst, hm, noch ein Apfelbuch, schaute aber glücklicherweise mal rein in die Story und … begegnete einer ganz außergewöhnlichen und mir schnell sehr vertrauten Romanfigur: Rebecca Winter, Fotografin in New York.
Beim Lesen fühlt es sich an, als hätte auch ich eine Fotokamera in der Hand und würde mich mit jedem Kapitel näher an Rebecca heran zoomen. Zuerst beobachte ich sie aus gesicherter Entfernung mit einem Teleobjektiv. Ich sehe eine dunkelhaarige, zierliche Frau, ca. 60 Jahre. Ihre Schulter gleicht einer weichen, weißen Landschaft, so verschwommen sind die Konturen. Assoziationen zu Wüsten- und Sandbildern entstehen. Rebecca selbst hat manchmal solche Bilder gemacht. Immer in Schwarzweiß. Nie in Farbe! Farben empfindet Rebecca als störend und so besteht auch ihre Garderobe ausschließlich aus Schwarz und Weiß und Grau. An diese Frau also zoome ich mich zaghaft heran, stelle dann auf scharf und vergrößere das Bild, komme ihr dabei immer näher, blicke zuletzt ganz tief in ihre Seele, kann mit ihr fühlen und denken …
Ihr Appartement in New York hat Rebecca für ein Jahr teuer vermietet. Von einem Teil des Geldes kauft sie ein winziges Cottage auf dem Land und plant, für ein Jahr hier zu leben. Vielleicht würden ihre Geldsorgen in diesem Jahr kleiner. Schon seit einiger Zeit hatte das Interesse der Galerien an ihren berühmten Kunstfotos nachgelassen, ihr Ruhm ging zurück, ihre Beziehung war gescheitert. Aus dieser distanzierten, vom Leben und von der Liebe enttäuschten Frau mit einem leichtem Hang zum Zynismus, entwickelt sich innerhalb weniger Monate eine weiche und zutiefst sensible Frau. Eine Frau, die neue Freunde findet, einen Hund in ihr Herz schließt und ihre Leidenschaft für Tiere und Fotos mit Waschbären, Adlern und … Hunden entdeckt.
Noch auf Seite 226, als Quindlen Rebeccas eiserne Umklammerung der Einsamkeit beschreibt, hätte ich diese Wandlung kaum erwartet: Es gab Nächte, da erwachte sie mit einem Stacheldrahtzaun aus leichtem, aber unverkennbarem Schmerz rund ums Herz. Dann ging sie im Kopf durch, was sie tagsüber gegessen hatte – Frühstücksflocken mit Rosinen, eine Scheibe Brot mit Erdnussbutter und Marmelade, Hühnchen mit Reis. Der Speiseplan einer Studentin im ersten Semester. Und sie fragt sich weiter, ob das möglicherweise Anzeichen eines Herzinfarktes waren. Vielleicht sollte sie öfter auf ihr Herz hören? Sie hatte gehört, dass Frauen dies im Allgemeinen selten tun würden.
Rebecca erkennt, dass es ist nicht nur Zeit ist, auf ihr Herz zu hören, sondern auch, ihr Leben grundlegend zu verändern, ihre Einstellungen zu ändern. Es macht Spaß, diese neue lebensfrohe und braungebrannte Rebecca zu erleben. Ich kann am Ende ganz beruhigt diesen Roman zuschlagen, mit dem ich glückliche Momente erlebt und tolle Einsichten gewonnen habe. Ich habe mich so richtig zu Hause gefühlt bei Rebecca Winter, dem zotteligen Hund Jack und dem schweigsamen Dachdecker Jim Bates. Und ich weiß, sollte mir wieder ein Roman von Anna Quindlen in die Hände gelangen, werde ich nicht lange zögern und sofort loslesen. Laut Klappentext gehört sie in den USA zu den wenigen ganz großen Autorinnen, die sowohl die Literaturkritik als auch das breite Publikum begeistern. Ihr Roman Die Seele des Ganzen (1995) wurde unter dem Titel Familiensache (1998) mit Meryl Streep, William Hurt und Renée Zellweger verfilmt.
Anna Quindlen. Ein Jahr auf dem Land. Aus dem Englischen von Tanja Handels. DVA München 2015, 320 Seiten. 19,99 €