Andrey Belyj: Petersburg

Wolfgang Krisai: Abstraktes Bild. 2002. Gouache.Anlässlich der Abfahrt meines Sohnes nach St. Petersburg, wo er ein Auslandssemester verbringen wird, nahm ich mir Andrey Belyjs Hauptwerk, den Roman „Petersburg“ aus dem Jahr 1913 vor. So weit war ich vorinformiert, dass man sich davon keine touristisch relevanten Informationen über diese Stadt erwarten darf. Stattdessen bekommt man einen Meilenstein der modernen russischen Romankunst serviert, den Vladimir Nabokov neben Joyce’s „Ulysses“ und Kafkas „Verwandlung“ zu den drei bedeutendsten Texten am Beginn der Moderne zählte.

Bewusstseinsströme?

Der Roman bietet keine mit den erzählerischen Mitteln des 19. Jahrhunderts erzählte „Geschichte“. Wenn man will, kann man ihn als einen „Bewusstseinsstrom“ auffassen – allerdings: wessen? Eines anonymen Erzählers?

Dieser anonyme Erzähler muss ein auktorialer Erzähler sein, weil er ins Gehirn aller seiner Protagonisten hineinschlüpfen kann. Vor allem in die Gehirne seiner beiden Hauptpersonen: Vater und Sohn, Apollon Apollonowitsch und Nikolai Apollonowitsch Ableuchow. Man liest ziemlich konsequent abwechselnd einen Abschnitt aus dem Bewusstsein des Vaters und des Sohnes, manchmal unterbrochen von Abschnitten aus der Sicht weiterer Gestalten der Handlung.

Dabei erfährt man als Leser, was der jeweils an der Reihe Seiende sich denkt, was er fühlt oder wahrnimmt. Manchmal nimmt er Einbildungen wahr: Es geschehen also unvermittelt die seltsamsten Dinge, bis sich am Kapitelende herausstellt, es war ein Traum, eine Fieberphantasie, eine Panikattacke oder Ähnliches.

Das Irrationale des Lebens

Belyj fängt mit dem Roman die Zusammenhanglosigkeit des Lebens ein, die irrationale Seite der Menschen, die Überhitztheit mancher Gedankengänge und die nicht und nicht funktionieren wollende Kommunikation mit den Mitmenschen. Wahrnehmungsfetzen treiben am Leser vorbei, die Figuren stammeln halbe Sätze und ringen um Worte, ohne sie zu finden, sie stürmen durch Petersburg, das eine Hexenküche finsterer Plätze, dunkler Eingänge und kalter Kanäle ist. Streikende Menschenmassen ergießen sich auf den Newski-Prospekt und wirken wie ein gigantischer Tausendfüßler. Die Stadt brodelt in einer vorrevolutionären Atmosphäre.

Apollon Apollonowitsch Ableuchow ist ein hoher Staatsbeamter im Landwirtschaftsministerium und als solcher hoch geachtet und gefürchtet, da er das ganze Land mit seinen Direktiven überzieht und überall Agenten hinschickt. Allerdings lässt seine Gestaltungskraft inzwischen deutlich nach, und in den wenigen Tagen, die der Roman umfasst, wirft Apollon Apollonowitsch seine Arbeit schließlich hin, erscheint nicht mehr im Amt und lässt sich pensionieren.

Als Staatsbeamter ist der Vater ein Vertreter des Regierungssystems, das junge Revolutionäre der damaligen Zeit – der Roman spielt 1905 – stürzen wollen. Daher steht auch Apollon Apollonowitsch auf der Abschussliste, und ironischer Weise soll ausgerechnet sein Sohn Nikolai auf ihn einen Bombenanschlag verüben.

24 Stunden, bis es kracht

Der Roman umfasst ziemlich genau die Zeitspanne von der Übergabe der Zeitbombe an Nikolai bis zu deren Explosion. Das sind mehrere Tage, denn Nikolai braucht einige Zeit, bis er überhaupt realisiert, was er da bekommen hat und in einem Akt des Gehorsams gegenüber der „Partei“ das Uhrwerk des Zeitzünders in Gang setzt. Ab dann sind es noch rund 24 Stunden, bis es kracht…

Nikolai macht in diesen wenigen Stunden eine Wandlung vom Revolutionär zum treuen Sohn durch. So ein richtiger eingefleischter Revolutionär war er ja nie, sondern eher ein Student, der seinen Vater hasst und daher gegen das Establishment ist. Als solcher ist er mit „der Partei“ (man erfährt nicht, welcher genau) in Berührung gekommen, hat dort geäußert, er wolle am liebsten seinen Vater in die Luft sprengen – und siehe da, die Partei nimmt diese Äußerung wörtlich, schwört den Jungspund darauf ein, und schon sitzt er in der Falle.

Vatermord?

Der dubiose Parteisoldat Dudkin, der ihm die Bombe überbracht hat, macht ihm klar, dass es nun kein Zurück mehr gäbe. Und in pubertärer Vatersverachtung zieht Nikolai tatsächlich das Teufelsding auf. Kaum ist das geschehen, wird ihm aber anders, denn er realisiert erst jetzt, was er da eigentlich vorhat: Vatermord! Davor schreckt er nun doch zurück – nur ist es dafür zu spät.

Einer seiner „Freunde“ (Nikolai hat nur dubiose Freunde) versteht ihn und rät ihm, die Bombe, da das Uhrwerk nicht zu stoppen ist, einfach in die Newa zu werfen.

Der Maskierte

Zu allem Überfluss ist Nikolai noch unglücklich verliebt in Sofja Petrowna, die Gattin eines eher waschlappenhaften Leutnants, der sich darein fügt, eine lebenslustige Gattin zu haben. Diese schart Verehrer um sich, ohne sich für einen Geliebten zu entscheiden.

Eines Abends schwirrt der verzweifelte Nikolai an, sieht, dass Sofja nicht zu Hause ist, versteckt sich im Eingangsbereich und erschreckt die Heimkehrerin schließlich gewaltig. Da sie ihn nicht erkennt (er hat einen roten „Domino“, also einen Maskenmantel, an), wird sie halb hysterisch. Die Geschichte wird herumerzählt, und ein um Themen verlegener Redakteur einer Petersburger Postille erfindet nun Episode um Episode über den „roten Domino“, der in der ganzen Stadt sein Unwesen treibe. Nikolai merkt davon nichts, weil er das Blatt nicht liest.

In der vorletzten Nacht der Handlung findet ein Maskenball statt, wo sowohl Vater wie auch Sohn Ableuchow hingehen. Der Vater, weil er der Gastgeberin verpflichtet ist, der Sohn, weil er dort die Geliebte zu treffen hofft. Diese wiederum geht ihrem Gatten zum Trotz hin, der ihr den Ballbesuch verboten hat, und übergibt Nikolai nebenbei den Brief der Partei, in dem diese den Bombenanschlag befiehlt.

Es ist unmöglich, hier die gesamte Handlung wiederzugeben, die unter anderem überhitzte Gespräche, tätliche Auseindersetzungen und einen Mord an einem Parteifunktionär zu bieten hat. All das saust in kurzen Kapiteln am Leser vorbei, der Mühe hat, den Überblick zu behalten. Etwa ab der Mitte, wo der Bomben-Mechanismus aufgezogen wird, packt einen dann auch die Spannung, was nun passieren wird. Wirft Nikolai die Bombe in die Newa? Oder steckt er sie wie zuvor ausgemalt unter Apollons Kopfkissen?

Das Opfer entdeckt die Bombe

Weder, noch. Denn während Nikolai bei der Partei seinen Rücktritt vom Schwur, den Vater zu ermorden, erklärt, stöbert Apollon im Schreibtisch des Sohnes herum, entdeckt eine tickende Sardinenbüchse, nimmt sie in sein Arbeitszimmer mit und untersucht sie ein wenig. Dann jedoch vergisst er das seltsame Ding.

Er erfährt nämlich, dass seine Frau, die vor zweieinhalb Jahren mit einem Spanier durchgebrannt ist, wieder zurückgekehrt ist. Apollon holt sie vom Hotel nach Hause zurück.

Währenddessen sucht der heimgekehrte Nikolai verzweifelt nach der Bombe, die er in die Newa werfen will, findet sie aber in seinem Zimmer nicht mehr. Da er nicht gut fragen kann, ob jemand vom Personal eine tickende Zeitbombe gefunden und mitgenommen hat, steigt seine Verzweiflung, bis er erfährt, dass ein Gast in seiner Abwesenheit bei ihm war, eingelassen wurde und das Zimmer durchstöbern konnte. Gewiss hatte dieser die Bombe mitgenommen. Halbwegs beruhigt beteiligt sich Nikolai an der großen Versöhnung mit der Mutter.

Explosion

Als alle schließlich im Bett liegen, kracht es im Arbeitszimmer unbeschreiblich, die Fenster zersplittern, die Wand bekommt Risse, es qualmt, staubt, brennt – doch niemand wird verletzt oder getötet.

Typisch. Im wirren Chaos der Roman-Ereignisse explodiert die Bombe am „falschen Ort“. Was da eigentlich los war, findet die Polizei nie heraus. Nikolai allerdings entfleucht lieber nach Ägypten, während der Vater sich, allmählich zum Tattergreis werdend, auf ein Landgut zurückzieht und dort seinen Lebensabend mit seiner Frau verbringt. Nach dem Tod des Vaters kehrt Nikolai nach Russland zurück und betätigt sich seinerseits als Gutsbesitzer. Vom einstigen Möchtegern-Revolutionär ist also nichts übriggeblieben. All das erfährt man in einem kurzen Epilog.

Musikalische Sprache

Übrigens bleibt dem Leser einer Übersetzung eine wesentliche Dimension des Romans vorenthalten, wie J. Holthusen in „Russische Literatur im 20. Jahrhundert“, Francke, Tübingen., 2. Aufl. 1992, S. 48 ausführt:

„Den westlichen Leser, der auf Übersetzungen angewiesen bleibt, täuschen Belyjs Romane notwendigerweise in Bezug auf ihre artistische Bedeutung. Das liegt daran, daß Belyj einen ganz eigenen ‚phrasierten‘ Prosastil geschaffen hat, der von Anfang bis zum Ende auf rhythmischen Bögen und Phrasen aufgebaut ist. Belyj hat nicht nur den ornamentalen Stil Gogols weiterentwickelt, sondern auch (wie schon in den ‚Symphonien‘) von musikalischen Prinzipien einen weitgehenden Gebrauch gemacht (Wiederholungen, Variationen, Leitmotive). Neben der ständigen Wiederaufnahme bestimmter ‚Phrasen‘ sind auch Belyjs Wortspiele sehr zu beachten, seine ironischen Anspielungen und seine doppeldeutigen Selbstzitate.“

Während Joyce mit experimentellen Formen und Proust mit übergenauer Seelenzergliederung den modernen Roman erschaffen, liefert Belyj mit „Petersburg“ dazu das Satyrspiel. Sein Roman ist eine surrealistisch wirkende Groteske, die lange vor dem Absurden Theater und dem Existenzialismus die Absurdität des Daseins vor Augen führt.

Andrey Belyj

Abschließend noch ein paar Bemerkungen zu Andrey Belyj:

Er hieß eigentlich Boris Nikolajewitsch Bugajew und lebte von 1880 bis 1934. Sein Vater war Mathematikprofessor in Moskau, und auch der Sohn studierte u. a. Naturwissenschaften. Er wurde zum führenden Symbolisten der russischen Literatur, versuchte das moderne Denken mit religiösen Weisheitslehren zu verbinden und ließ sich von Rudolf Steiner so sehr faszinieren, dass er vier Jahre lang (1912-16) am Aufbau des Goetheanums in Dornach mitwirkte. Zuvor hatte er nach Anfängen mit Lyrik („Symphonien“, 1902-1908) seine beiden ersten Romane veröffentlicht: „Die silberne Taube“ und „Petersburg“, die eigentlich ein dritter zu einer Trilogie abrunden sollte, der nie geschrieben wurde.

Nach der Oktoberrevolution betätigte Belyj sich zunächst als revolutionärer Schriftsteller, verließ das Land aber enttäuscht im Jahr 1921 und übersiedelte nach Berlin. Schon zwei Jahre später kehrte er aber in die Sowjetunion zurück, schrieb seine Memoiren und eine Studie über  „Die Meisterschaft Gogols“. Eine 1500 Seiten starke Geschichte Europas unter dem Titel „Geschichte der allmählichen Selbsterkenntnis der Seele“ durfte nicht erscheinen und wurde erst 1993 gedruckt. (Nach dem Artikel über „Bely“ in Wolfgang Kasack: Russische Autoren in Einzelportraits. Reclam, Stuttgart, 1994, S. 41-48.)

Andrey Belyj: Petersburg. Aus dem Russischen von Gisela Drohla. Lizenzausgabe der Deutschen Buch-Gemeinschaft mit Genehmigung des Insel-Verlags, Frankfurt; 1963. 425 Seiten.

2005 erschien bei Suhrkamp eine Neuübersetzung von Gabriele Leupold, die gleich um 200 Seiten länger als meine Version ist. Warum? Weil Belyj im Lauf seines Lebens den Roman für Neuausgaben gekürzt hat. Die Suhrkamp-Version hat die ursprüngliche Länge (suhrkamp-taschenbuch 3716, 638 Seiten).

In meiner Ausgabe wird Andrey mit -y geschrieben, häufiger ist die Schreibung mit -i: Andrei.

Bild: Wolfgang Krisai: Abstraktes Bild. 2002. Gouache.


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