„Bin auf die Rolltreppe gefallt. Hab nicht gehört. Mama hat Stopp geruft. Dann war ich im Krankenhaus. Daaaaaa war ein Aua.“ Der Rabauke tippt auf die Narbe am Kinn, während sich seine Worte beim Sprechen überschlagen. Diese Rolltreppengeschichte. Sie poppt fast täglich auf. Er wird sie wohl noch erzählen, wenn er in 30 Jahren mit seinen Kumpeln zusammensitzt.
Mittlerweile kennt diese Geschichte wirklich jeder, der den Rabauken kennt. Die Erzieherinnen im Kindergarten, die Damen an der Wursttheke, unsere Nachbarn, Menschen mit denen ich telefoniere und denen der Rabauko „Hallo“ sagen will sowie sämtliche Kassiererinnen unseres Supermarkts. Jeder. Er platzt damit einfach heraus, stammelt halb unverständlich. Aber es scheint ihm sehr wichtig zu sein.
Die Rolltreppengeschichte ist nun über drei Monate her und immer noch so präsent, als ob es gestern passiert wäre. Genauso wie einige andere Situationen. Dass Vincent van Gogh sich ein Ohr abgeschnitten hatte, haben wir vor Wochen dem feinen Herrn in einem Nebensatz erzählt, als wir uns Bilder des Malers betrachteten. Und heute scheint genau dieses Detail den Rabauken schwer zu beschäftigen. Alleine kramte er mein altes Kunstbuch hervor und erzählte mir was von „schon gestorben“ und „Ohr abgeschneidet“, um mir dann das Selbstbildnis van Goghs mit Verband am Ohr zu zeigen. Joa – so kann man natürlich auch die Liebe für Kunst wecken.
Kaum zu glauben, welche Dinge Kleinkinder so in ihrem Hirn abspeichern und einen mit dem Wissen Wochen oder Monate später verblüffen. Wie der feine Herr, der regelmäßig von Situationen von vor eins, zwei Jahren erzählt, an die ich mich nur kaum erinnern kann. Was der Mann (Pfarrer) am Grab vom Uropa gesagt hat. Wie es war, keine Luft zu bekommen und der Krankenwagen kam.
Und was sich da so ins Gedächtnis eingeprägt hat, ist jedenfalls nicht das, was man sich so als Kindheitserinnerung erwartet oder wünscht.
Komischerweise ist auch meine erste Erinnerung – neben dem Geschmack von lauwarmen Kakao im Fläschchen – keine so schöne. Der Tod meines Onkels. Ich war 5 Jahre alt und habe immer noch die Situation im Kopf, wie meine Eltern mir den schlimmen Motorradunfall mitteilen und ich weinend auf´s Bett stürze.
Warum speichern kleine Kinder denn keine schönen Dinge ab, wie das erste Ostereier Suchen oder der wahnsinnig tolle Schwimmbadbesuch? Warum sind es diese Dinge, die einen nachhaltig beschäftigen, die Angst machen oder die man kaum (oder noch nicht) begreifen kann?
Erinnerungen sind meist mit Gefühlen verbunden
Je heftiger das Gefühl beim Erlebten, desto eher bleibt die Erinnerung daran? Oder wie ist das jetzt? Warum werden in den noch relativ leeren Gehirnen so skurrile Situationen abgespeichert?
Forscher sagen, die frühesten dauerhaften Erinnerungen sind Ende des zweiten Lebensjahres möglich, meist jedoch eher mit etwa dreieinhalb Jahren ein. Ausschlaggebend für das Speichern von Erinnerungen ist die Reifung des Gehirns und die Bildung des ICH-Bewusstseins. Außerdem muss ein Kind Sprache nahezu beherrschen, um das Erlebte in Worte fassen zu können und abzuspeichern. Genauso wichtig ist das Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Alle Erlebnisse davor werden vergessen – infantile Amnesie. Manchmal blitzen jedoch Fetzen auf. Diese Schein-Erinnerungen beruhen auf Erzählungen der Eltern und Fotos, die man vor Augen hat.
Was also bleibt sind frühe Erinnerungen an Rolltreppen, abgeschnittene Ohren und Krankenwagen – und vielleicht der Geschmack an lauwarmem Kakao aus dem Fläschchen. Na toll. Ich hoffe sehr, dass ich meinen Jungs auch positive Erinnerungen schenken kann. Vielleicht ganz unbewusst das Gefühl von Geborgenheit und Liebe.