Lübeck, 8:25 Uhr, ich sitze im Wartebereich des medizinischen Dienstes der Rentenversicherung und warte auf meine zuständige Amtsärztin. Ich bin auf alles vorbereitet (der Ordner mit allen Unterlagen liegt neben mir und der Fragebogen ist korrekt ausgefüllt) und freue mich natürlich, auf meinem 50. Geburtstag diesen Termin wahrzunehmen.
Die Einladung kam vor zwei Wochen. Eine Verlegung des Termins wäre nur unter speziellen Umständen möglich, ein Geburtstag zähle allerdings nicht dazu, teilte mir die freundliche Dame am Telefon mit.
Geprägt durch meine Erfahrung bei der Agentur für Arbeit und Erzählungen aus dem Bekanntenkreis und der Selbsthilfegruppe habe ich gewisse Vorstellungen von diesem Termin. Was mich dann allerdings erwartet, übertrifft alle meine Vorstellungen.
Um 8:35 Uhr sehe ich, wie Frau Dr. P. ziemlich gehetzt – und offensichtlich gerade eintreffend – ihren Behandlungsraum aufschließt. Kurz danach holt sie mich zur Untersuchung.
Sie begrüßt mich mit den Worten: „Wir haben nicht viel Zeit, maximal fünfzehn Minuten für das aufklärende Gespräch und dann noch 45 Minuten für die Untersuchung und Klärung aller relevanten Fragen.“ Das müsse ich verstehen, setzt sie hinzu, es wollen ja auch noch andere untersucht werden. Kein Problem, je schneller, desto besser, habe ich dann ja noch etwas von dem Tag (immerhin eigentlich mein Geburtstag).
Frau Dr. P. schreitet auch gleich zur Tat. Etwas entsetzt ist sie über die Dicke meines mitgebrachten Ordners. Was ich denn da alles habe, möchte sie wissen. Nun ja, in der Einladung stand, ich solle alle Unterlagen zu meinem Krankheitsverlauf inklusive Röntgenbilder etc. mitbringen. Und diese befinden sich in dem Ordner. Etwas verstört sieht sie mich an, „aber, so viel, wer soll denn das alles lesen?“ und beginnt hektisch in den Unterlagen zu blättern. Währenddessen erklärt sie mir, dass es ja nicht so schlimm sei mit meiner Erkrankung, da ich ja keine Metastasen hätte und wir ja wirklich schnell durch wären, denn sie hätte ja nur begrenzte Zeit für mich (diese Erklärung wiederholte sich sie dann noch alle zehn Minuten).
Als nächstes fällt ihr auf, dass ich ja eine Neuerkrankung im Arm hätte (klar, die Unterlagen liegen oben auf) und fragt nach den Laborergebnissen. Dass diese noch nicht vorliegen, kann sie sich nicht erklären, sei die Biopsie doch schon sechs Wochen her. Meine Erklärung, dass der histologische Befund bei einem Angiosarkom aufgrund der verschiedenen Testreihen länger in Anspruch nehmen würde, entlockt ihr ein „Ist das so? Was ist denn da anders als bei anderen Tumoren?“. Meinen Einwand, das sollte sie doch eigentlich wissen, wischt sie weg mit der (wohl mehr an sich selbst gestellten Frage) was denn wohl eigentlich ein Angiosarkom sei.
Die Vertrauensbildung in diese Ärztin platzt wie eine Seifenblase und ich erkundigte mich nach ihrer Fachrichtung. Sie sei Amtsärztin, bekomme ich prompt zur Antwort. (Böse Anmerkung der Redaktion: Aha, für mehr hat es dann wohl auch nicht gereicht….)
Auf jeden Fall könne sie meinen Antrag auf Erwerbsminderungsrente nicht beurteilen, wenn die Ergebnisse der Histologie nicht da wären. Mein Hinweis, dass es sich hierbei lediglich um die Neuerkrankung handele und ja schon erhebliche Einschränkungen durch die Ersterkrankung bestehen würden, verwirrt sie. Welche das denn wohl seien, will sie wissen. Ich begann aufzuzählen: Bewegungseinschränkung des Beins und Arms, körperliche Kraftlosigkeit, Gefühllosigkeit im Bein… Weiter komme ich nicht, denn das fehlende Gefühl im Bein kommentiert sie sofort mit „Das kann ja gar nicht sein. Sie müssen Gefühl haben. Nur um die Transplantationsnarbe herum sei ein Taubheitsgefühl üblich. Das meine ich wohl damit.“
Nein, mein gesamter Unterschenkel ist taub. Nach der dritten Feststellung, dass das nicht sein könne, frage ich sie – um Freundlichkeit bemüht -, ob sie das bitte meinem Bein erklären könne, damit dieses die Tatsache verstehen und in Zukunft umsetzen könne. Etwas verwirrt klärt sie mich auf, das dieses nicht zu ihren Aufgaben gehört, dafür wäre eine Schmerzambulanz zuständig. Aha, ob das auch geht, wenn ich keine Schmerzen, sondern eher so gar kein Gefühl habe? Und ob es dort Menschen gibt, die meinem Bein das tatsächlich suggerieren können? Interessanter Ansatz auf jeden Fall…
Nachdem wir 60 Minuten (wir erinnern uns an ihre festen Zeitvorgaben) ein mehr oder weniger aufschlussreiches Vorgespräch führen, kommt sie zu den Kernfragen meines Gesundheitszustands. Ich möge bitte ausführen, wie es mir so gehe. Gerne würde ich das tun, wenn sie mich denn ließe. Jeder angefangene Satz wird von ihr unterbrochen und – versehen mit dem Hinweis auf die knappe Zeit – in Frage gestellt.
- Mein Bein würde nur deshalb anschwellen, weil ich keine Lymphdrainage erhalte. Doch, einmal die Woche 60 Minuten. Ach, tatsächlich?
- Der Arm wäre bewegungseingeschränkt? Kann nicht sein. Aber – falls es doch im (natürlich unwahrscheinlichen Fall) so wäre, würde das mit Krankengymnastik weggehen. Habe ich dreimal pro Woche. Ach, tatsächlich?
- Die Knieschmerzen kämen nicht von dem Strahlenschaden, sondern von dem Lymphödem aus dem Unterschenkel. Hier würde wirklich Lymphdrainage helfen! Bekomme ich…. Ach, tatsächlich?
- Gegen die Kraftlosigkeit würde Bewegung an der frischen Luft helfen. Ich gehe jeden Tag mindestens 30 Minuten mit dem Hund. Ach, tatsächlich? Na, dann mache ich ja alles richtig…
- Für den Fersensporn im rechten Fuß würde Krankengymnastik eine erhebliche Erleichterung bringen. Bekomme ich. Ach, tatsächlich?
- Die starken – wahrscheinlich – tumorbedingten Schmerzen im linken Arm könne man bestimmt auch irgendwie in den Griff bekommen. Jetzt frage ich: „Ach, tatsächlich?“ Ob denn hier schon muskuläre Probleme abgeklärt worden seien? Ja, daran liegt es nicht. Ach Mensch, das wäre ja blöd (wortwörtlich)
Nach weiteren 45 Minuten (echte Termintreue…) wenden wir uns der körperlichen Untersuchung zu.
Da das Zuziehen des Lammenvorhanges vor dem zum – von Fußgängern bevölkerten – Gehweg gerichteten Fenster sich als schwierig gestaltet, warte ich mit dem Ablegen meiner Kleidung. Worauf ich denn warten würde, möchte sie wissen (schließlich seien wir in Zeitnot). Mein Hinweis, ich würde ungern alle Passanten mit einer Peepshow erfreuen, versteht sie nicht, hat jedoch zur Folge, dass sie noch hektischer an den Vorhangstrippen zerrt und diesen nun vollends aufzieht. Mein Vorschlag, ihr zu helfen, wird mit der Bemerkung abgeschmettert, sie dürfe nichts annehmen, das könne als Bestechungsversuch angesehen werden. Etwas sprachlos, verfolge ich also weiter die Szene, bis sie erfolgreich das Vorhaben abgeschlossen hat. Nun ist es leider so dunkel im Raum, dass sie den Lichtschalter nicht finden kann und den Vorhang wieder etwas aufdrehen müsste. Ohne Rücksicht auf Verluste (oder eventuelle Rechtsverstöße) starte ich einen radikalen Bestechungsangriff, drücke auf den (mit Leuchtdiode) versehenen Lichtschalter zu meiner Rechten und ziehe mich – von ihr kommentiert mit „Oh, jetzt kann ich Sie sehen.“ – aus.
Meinen leicht hinkenden Gang diagnostiziert sie zweifelsfrei als Knickfuß. Damit solle ich schnellstmöglich einen Orthopäden aufsuchen. (Ich gehe so, weil ich mich beim Aufsetzen des tauben Fußes konzentrieren muss und das ohne Schuhe manchmal etwas unbeholfen aussieht). Weiterhin erhält ihr Diktiergerät die Information „Patientin stark tätowiert“. Was das denn mit dem Untersuchungsbericht zu tun hätte, möchte ich wissen. Gar nichts, fiel ihr nur gerade so auf. Aha….
Dann fällt ihr die Narbe am Rücken auf. Die sei ja sehr lang und reiche bis zur Brust. Da müsste ich doch eigentlich Bewegungseinschränkungen und Lymphstau haben. Habe ich! Ihr Diktiergerät erfährt die Tatsache „keine Einschränkungen vorhanden“. Meine Einwände ignoriert sie, weist jedoch nachdrücklich darauf hin, dass ich Osteoporose hätte. Das verneine ich entschieden, hat doch die gerade letzt durchgeführte Knochendichtemessung etwas Gegenteiliges ergeben. Info an ihr Diktiergerät: Ausgeprägte Osteoporose. Ich schweige (wenn es denn der Rentenbewilligung dient, habe ich jetzt eben Osteoporose).
Die kreisrunde Lappenplastik am Unterschenkel wird erst kurz begutachtet und dann kommentiert mit „wieso geht denn eine Narbe in die Kniekehle?“. „Dort wurde der Arterienanschluss gelegt.“ „Ach, das ist ja interessant.“ Sie vermisst beide Beine und stellt leicht überrascht fest, dass das linke Bein tatsächlich mehr Umfang hätte als das rechte (mich wundert mittlerweile gar nichts mehr).
Bei der Muskelprüfung der Beine liege ich auf dem Rücken und schaue an die Decke (wie „befohlen“). Ich möge mit aller Kraft gegen ihre Hand drücken werde ich angewiesen. Wo denn ihre Hand gerade sei, frage ich vorsichtig. Na, an meinem linken Unterschenkel. DAS MERKE ICH NICHT!!!! WEIL KEIN GEFÜHL!!!!! Ach so, dann könne ich doch mal schauen, wo sie gerade mit der Hand ist. Ich soll doch an die Decke schauen. Ja, sicher und auf dem Rücken liegen bleiben (klare Anweisungen sind ja so wichtig….)
Zweieinhalb Stunden sind mittlerweile vergangen, als die Labormitarbeiterin das Behandlungszimmer betritt und fragt, wo ich denn bleiben würde. Sie warte auf mich zur Blutabnahme. Als die Dame das Zimmer wieder verlässt, sieht Fr. Dr. P. mich pikiert an und bemerkt: „Jetzt bekomme ich auch noch Ärger ihretwegen.“ Mein Mitleid hält sich in Grenzen.
Die Laboruntersuchung geht dann zügig und schnell von Statten. Und nach gerade mal drei Stunden verlasse ich den medizinischen Dienst.
Meinen Gemütszustand würde ich als eine Mischung aus Wut, Sprachlosigkeit, Existenzangst und kurz vor dem Heulen bezeichnen.
Fazit:
Ich gehöre definitiv zu der Gruppe der Simulanten, da ich mir ja meine körperlichen Beschwerden anscheinend nur einbilde und diese überhaupt nicht vorhanden sein können…. Wahrscheinlich habe ich mir auch den Krebs nur eingebildet.
Und wieder einmal hat der Sozialschmarotzer in mir gedacht, wenn man unverschuldet krank ist, wird man unterstützt.
Ich hätte es besser wissen müssen….