Tage, wie die vergangenen waren sehr intensiv für die Sinne. Besonders das Bergpanorama mit dem Ortler in der untergehenden Sonne hatte es mir angetan.
Heute war es also soweit, das Stilfser Joch lagt nur 15 km vor uns. OK, es waren 15 km im permanenten Anstieg und es waren 46 Spitzkehren, die da kommen sollten. Alleine die letzten 14 Kehren vor dem Ziel überwinden 400 Hm. Dieses Joch hatte schon während der Vorbereitung etwas Magisches an sich. Es war ein berühmter Pass, gleichzeitig der höchste Punkt auf unserer gesamten Tour und durch die kurvenreiche Anfahrt auch über die Grenzen hinaus bekannt. Nicht nur für Motorradfahrer stellt diese Strecke ein attraktives Ziel dar. Auch das berühmte Radrennen Giro d`Italia führte schon oft über das Stilfser Joch. Natürlich hatten wir im Vorfeld Bilder gesehen, Aufnahmen, die vom Joch aus in Richtung Tal gemacht worden sind und ein unglaubliches Straßenbild abgaben. Unendlich schienen sich die Kurven ins Tal zu schlängeln und ganz da unten konnte man eine kleine Station sehen. Ein wirklich eindrucksvolles Bild, nur hatte diese Aufnahme einen kleinen Haken. Nein, es war nicht falsch, sondern es zeigte einfach nicht alles. Wie wir schon bald feststellen sollten, war diese kleine Station, die man ganz unten im Tal sehen konnte, lediglich so etwas wie eine Halbzeit Markierung. Das Stilfser Joch ist mit 2.757 m der zweit höchste asphaltierte Gebirgspass der Alpen, etwas oberhalb davon auf dem Gipfel liegt auf 2.843m die „Dreisprachenspitze“.
9:00Uhr, die offizielle Startzeit. Da unsere Unterkunft direkt an der Passstraße lag, also im Berg, gab es leider kein Warmfahren. Somit ein direktes Antreten mit noch kalten und müden Beinen.
Zum Glück war es an diesem Tag nicht so heiß, sondern etwas bedeckt und diesig. Schnell verließen wir den kleinen Ort Trafoi, und von jetzt an reihten sich Kurve an Kurve und Kehre an Kehre. Alles, was sich Kehre nennen darf hatte eine Nummer, da kam schon die „46“. Wir mussten also rückwärts zählen, die magische „1“ war noch weit weg. Tom hatte anfangs etwas Probleme und eine ganze Zeit lang leichte Krämpfe in den Waden. Es war jetzt sehr wichtig, seinen persönlichen Tritt zu finden, die optimale Trittfrequenz, denn für die nächsten Stunden würde sich nichts wesentlich ändern. Diese Passstraße war ein absoluter Traum, für Radfahrer wie für Motorradfahrer, die uns zu Hunderten überholt haben. Manchmal war das schon lästig, fast unangenehm. Der Motorenlärm und die Abgase waren nicht wirklich angenehm und passten auch nicht richtig in diese Natur. Außerdem wurden wir auf der ohnehin manchmal engen Straße auch eng überholt. Nicht überall waren Leitplanken montiert, sondern noch, wie man es aus alten Filmen kennt, Steinbrüstungen, die aber einen gewissen Charme hatten und sehr gut hierher passten. Wenn ich nach oben blickte, sah ich über uns die Serpentinen, wie sie sich durch den Wald um den Berg nach oben schlängelten. Von der Endstation auf dem Pass war noch lange nichts zu sehen. 10% im Schnitt, manchmal auch 20%, so ging es aufwärts. Als besonders steil haben wir die engen Kehren empfunden, denn wir konnten diese wegen des starken Verkehrs nicht ausfahren sondern mussten diese ganz eng nehmen, was entsprechend schwerer war. Wir waren wohl alle drei erstaunt, was unsere Beine noch so hergaben. Die bange Frage, was nach mehreren Tagen der Anstrengung noch an Kraft in ihnen stecken würde, wurde jetzt beantwortet. Es war auf jeden Fall mehr, als wir uns zugetraut hatten. Es lief einfach gut. Sobald jeder von uns seinen Rhythmus gefunden hatte, war es zwar kein Selbstläufer, aber es ermöglichte einem, konstant seine Kräfte und Reserven einzusetzen und so eine optimale Leistung zu erbringen. Das war sehr wichtig, den diese Etappe war anstrengend und noch nicht die Letzte, also galt es zu Haushalten und sich und seinen Körper richtig einzuschätzen. Das heutige Ziel sollte Santa Caterina Valfurva sein. Dieser kleine italienische Skiort liegt unweit von Bormio und war schon Austragungsort der alpinen Skiweltmeisterschaften. Bis dahin waren es heute ca. 50 km.
Die Durchnummerierung der Kehren ließ einen innerlich immer mit zählen. Es ging uns glaube ich allen so. Wir waren immer nah bei einander, und es ist nie jemand vorgeprescht, denn unser Niveau war ungefähr ausgeglichen. So konnte es jeder von uns hören als bei Kehre 39 jemand gerufen hat: „Nie mehr 40 Kehren, nie mehr, nie mehr…“ Ich weiß nicht mehr, wer es war, ob Tom oder ich, aber es war irgendwie schon sehr motivierend. Bei Kehre 29 dann schon wieder: „Nie mehr 30 Kehren, nie mehr, nie mehr …“.
Immer wieder machten wir Bilder und drehten mit einer kleinen digitalen Kamera Filme, mal bei Pausen, aber auch oft während der Fahrt. Tom hatte das kleine Gerät bei sich und hatte schon während der vergangenen Tage immer wieder Aufnahmen gemacht. Ich war echt gespannt, was daraus werden würde, denn es ist gar nicht so einfach, bergauf bei einer gewissen Anstrengung die Kamera gerade zu halten ohne dabei zu stürzen oder übermäßig in das Micro zu schnaufen. Auf späteren Aufnahmen war im Hintergrund dann aber oft genau dieses angestrengtes Schnaufen zu hören.
Auf ein Mal tauchte ein Gasthof auf der linken Seite auf. Das schien jetzt Halbzeit zu sein. Von hier aus konnte man ganz klein dort oben auf dem Berg die Passstation sehen, ca. 23 Kehren und 600 m über uns. „Oh Gott“ habe ich gedacht, „noch so weit weg“. Und wenn man dann diese endlosen Kurven sieht und all die kleinen Ameisen, die sich da den Berg rauf bewegen.
Was für ein Anblick. Von hier hatte man aber auch einen guten Blick zurück ins Tal und für 15 Minuten auch mal die Muße, sich den Verkehr und das bunte Treiben anzusehen, das da den Berg hoch wollte. Motorradfahrer in ganzen Gruppen und dazwischen immer wieder Autos. Waghalsige Überholmanöver konnten wir beobachten, genauso, wie einsame Radfahrer, die vor oder nach uns in Richtung Pass unterwegs waren. Für uns galt erst mal, etwas zu essen und natürlich wieder trinken und dieses Mal auch ein Trikotwechsel. Nicht untereinander, sondern trockene Sachen, denn oben auf dem Pass würde Schnee liegen und ein kalter Wind wehen.
Stilfser Joch, zweiter Teil beginnt. Dad fuhr vor. Ein Handschlag mit Tom und ein „Los geht’s mein Freund“, dann fädelten wir uns wieder in den Verkehr ein. Diese zweite Hälfte rollte auch ganz gut, war aber merklich steiler. Es folgten gerade Stücke und wir fuhren nahe an der rechten Steilwand und dann wieder Kurven und Kehren, immer wieder. An manchen Stellen hielten wir kurz und blickten zurück, „Oh man, schon so hoch“. Für ein kurzes Foto bleibt Zeit, dann mussten wir weiter. Wir überholten ein Ehepaar, das ebenfalls mit Fahrrädern unterwegs Richtung Pass war. Nur hatten die beiden keine Mountainbikes, wie wir, sondern Tourenräder, die auf den ersten Blick ganz schön schwer aussahen. Dazu kam, dass beide Räder ziemlich voll gepackt waren. Die beiden hatten wohl ein anderes Ziel, als wir. Dafür schnaubten die Zwei ganz ordentlich, besonders die Frau, die mit all dem Gepäck und Satteltaschen fast überfordert aussah. Später haben wir sie oben wieder getroffen und da erzählten sie uns, dass sie tatsächlich eine mehrtägige Radtour unternahmen.
In den Kurven gab es immer wieder mal die Möglichkeit ranzufahren und Pause zu machen, also auch für Motorradfahrer und Autos. Teilweise wurden wir schon etwas ungläubig angesehen, von den Menschen, die da am Straßenrand standen, aber mancher Motorradfahrer sah uns kommen, zeigte uns den „Daumen hoch“ und meinte nur „Respekt“. Das tat mal wirklich gut. „Nie mehr 20 Kehren, nie mehr, nie mehr…“. Es war so anstrengend, mir lief der Schweiß brennend in die Augen und immer diese Motorräder.
„Nie mehr 10 Kehren, nie mehr, nie mehr…“. Es wurde noch steiler, besonders in den Kehren, die jetzt besonders eng wurden. Ein Blick zurück, „oh man, sind wir hoch“ und das Ortler-Massiv links von uns schien so nah. Noch 5, noch 5 Kehren, dann hatten wir es geschafft. Noch 3, nur noch 3, kaum zu glauben, wir konnten die Station schon deutlich sehen. Dann das heiß ersehnte Schild, die “1“. Als ich diese Kurve durchfuhr, wurde ich so von Glücksgefühlen und Erleichterung überschüttet, Endorphine pur. Ein unglaublich emotionaler Moment, und hätte ich sie nicht schon längst ausgeschwitzt, hätte ich in diesem Moment Tränen in den Augen gehabt.
Jetzt waren es nur noch 200 m bis auf den Pass. Wir sahen jetzt die Station und so viele Menschen, Autos und Motorräder. Fast zeitgleich fuhren wir ein, wir waren oben, tatsächlich oben, 15 km, fast 1.500 Hm in 2,5 Stunden. Wir fallen uns in die Arme, was für ein Gefühl und was für ein bewegender Moment, wenn einem klar wird, dass man wirklich oben ist. Auf der Passhöhe hatte sich aus Gaststätten, Hotels und Souvenirläden schon fast so etwas wie eine kleine Ortschaft gebildet, in der zumindest während der Sommermonate lebhafter Betrieb herrschte. Und es war Sommer und es herrschte Betrieb. Unzählige Autos, Motorräder und immer wieder Fahrradfahrer standen herum und die Leute genossen das Wetter und diese unglaubliche Aussicht. Die Menschen standen in Gruppen zusammen, unterhielten sich oder stöberten durch die Läden. Außerdem gab es alle paar Meter geschäftstüchtige Italiener, die etwas zu essen anboten. Das Stilfser Joch schien ein regelrechter Ausflugsort zu sein, denn es ging hier zu, wie auf einer belebten Einkaufsstraße.
Wir genossen hier diese Atmosphäre, diese ständige Kommen und Gehen und die Tatsache, diesen Pass geschafft zu haben, der zumindest mich so lange mit Respekt und einem Gefühl von Skepsis erfüllt hatte. Skepsis, weil ich mir nie ganz sicher war, auch am fünften Tag noch so eine lange Steigung fahren zu können. Außerdem hatte das Stilfser Joch irgend etwas besonderes an sich, dass ich nicht wirklich erklären konnte.
Der Blick auf die direkte Umgebung bleibt jedem, der einmal den Weg hierher gefunden hat, noch nachhaltig in Erinnerung und selbst jetzt, wenn ich diese Zeilen schreibe, erinnere ich mich noch sehr gut an den Moment, als wir dort oben standen. Zu einer Seite sieht man den Gipfel der Dreisprachenspitze mit der Garibaldi-Hütte, zu der anderen Seite den gewaltigen Ortler. Im Sonnenlicht ist es ein schönes Schauspiel aus Schnee, Schatten und Himmel, dem man da auf dem Ortlermassiv zusehen kann. Solange die Sonne scheint sind die Luft und die Temperaturen auch angenehm, sobald aber Wolken kommen und der Wind auffrischt, wurde es schnell kalt und für uns bestand dann auch die Gefahr, uns zu erkälten. Es war sowieso Zeit, weiter zu fahren, die Abfahrt auf der anderen Seite ins Veltlin wartete auf uns. Der ursprüngliche Plan lautete anders. Die Joe-Route sollte uns eigentlich kurz nach dem Stilfser Joch noch Richtung Umbrailpass und zum Monte Forcola (2,906 m) führen. Die aktuellen Wetterbedingungen haben auch das leider nicht zugelassen. Also mussten wir, bedingt durch den noch zu hohen Schnee, die Strecke wieder etwas abändern. Das war schade aber nicht anders machbar, denn der Versuch trotzdem mit den Rädern durch zu kommen, wäre wahrscheinlich gescheitert und wer weiß, in welche Gefahren wir uns mit dieser Entscheidung gebracht hätten.
Wir durften aber wieder einmal erleben, was es heißt, die Belohnung für einen stundenlangen Anstieg zu bekommen. Da wir jetzt gezwungen waren auf der Straße zu bleiben, konnten wir uns dem voll und ganz hingeben. Das bedeutete einen schier endlosen Blick in das nächste Tal zu haben und unzählige Kurven mit einem manchmal halsbrecherischem Tempo zu fahren. Endlose Serpentinen schlängelten sich auch auf dieser Seite den Berg hinauf, nicht minder eng oder steil und es waren auch bestimmt nicht weniger als von Trafoi kommend. Von unserer Startposition aus konnten wir sehen, wie die Straße sich im Hang ganz am Ende des Tales entlang durch Tunnel wand und viele Kilometer von uns entfernt um die Ecke ins nächste Tal verschwand. Also aufgesattelt und dem Tal entgegen. Auf dieser Strecke wird man teilweise so schnell, dass selbst Motorradfahrer in den Kurven nicht überholen können oder wollen und sogar auf kurzen Geraden zwischen den Kehren hinter uns blieben. Natürlich nicht wirklich lange und die richtig Waghalsigen haben sich auch das ein oder andere riskante Manöver geleistet.
Außerdem haben wir immer wieder mal angehalten um Fotos zu machen und um dem Verkehr und dem Treiben etwas zuzusehen. Ein schnödes runter rasen bis ins Tal wäre sicherlich zu schade gewesen.
Die Schönheit dieser Alpenregion ist schwer in Worte zu fassen. Stellt man sich vor, in dieser Höhe vor der Abfahrt zu stehen und den Blick Richtung Tal, dann sind die Gefühle auch heute noch präsent. Die Abfahrt ins Tal war wie immer ein Erlebnis und nachhaltig in unserer Erinnerung. Dadurch, das wir die Strecke abändern mussten, war diese Etappe auch nicht ganz so lange und nach dem wir im Tal angekommen waren, galt es “nur” noch bis nach Santa Caterina Valfurva zu kommen, einem kleinen aber sehr schönen Ort.
Kommende Woche werden wir über den sechsten Fahrtag berichten, die sechste Etappe…
Lesen Sie hier, wie alles begann.
Lesen Sie über die Vorbereitung.
Lesen Sie hier über unsere ersten Eindrücke.