ARTus-Kolumne »SO GESEHEN« Nr. 486 (Ostsee-Zeitung Rügen 9.10.)
Zwischen den Dichtern Carl Michael Bellman (1740–1795) und Charles Baudelaire (1821-1867) kann man sich wahrlich gut aufgehoben fühlen. Das Lyrikheft der legendären Reihe »Poesiealbum« mit der hohen Nummer 252 erschien nach der Bellmann-Publikation und vor dem Baudelaire-Heft, genau ein Jahr vor der Implosion der DDR und widmete sich Gedichten des Leipzigers Peter Gosse, rechtzeitig zu seinem 50. Geburtstag.
Der Lyriker Rainer Kirsch traf damals die Auswahl und führte ihn so ein: »Diplomingenieur für Hochfrequenztechnik, lehrt seit längerem am Leipziger Literaturinstitut junge Schreibwillige fragen, wie dichterisches Reden funktioniert; in Zeiten, da vielen Kenntnis der Tradition als lästig und Schludern für Selbstverwirklichung gilt, hält er unverzagt auf Denkschärfe und gewußtes Handwerk. Angetreten war er Mitte der sechziger Jahre mit flapsig-motzigen sinnlichen Poesien, denen gleichwohl sächsischer Welternst innewohnte; damals (er hat in Moskau studiert) schätzte er Rachmaninow, heute hört er Mozart und Bach, Widersprüche, statt sie der Mode folgend schlicht zu benennen, hat Gosse von Beginn an im Vers ausgehalten bis zum Knirschen der Sprache: hinzugewonnen sind inzwischen Spiel mit dem Kanon und klassische Durchheiterung, was die Texte nicht harmloser macht…«
Meine Poesiealbum-Dublette gehörte einst einer Militärischen Fachbibliothek der Nationalen Volksarmee, Standort Prora auf Rügen. Der Stempel mit der Postfachnummer 77008 ist auch nach über zwanzig Jahren gut lesbar, sogar der handschriftliche Bestandsvermerk: 52599. Alle Achtung, was für einen umfangreichen Bücherbestand diese Militärische Fachbibliothek gehabt haben muss!
Lyrik war mir so gesehen schon immer Munition zum Nachdenken. Gedichte als Sprengstoff wider den Schlaf der Vernunft!
Nur, vor der Wende gelesen hat mein nach der Wende in einem Prora-Antiquariat aufgestöbertes Zweitexemplar nicht ein Angehöriger der NVA. Es findet sich kein Eintrag unter der Rubrik »Dieses Buch ist zurückzugeben bis zum«.
Die Spalten sind leer geblieben und so auch ungelesen die folgenden Gedichtzeilen: »Benennen statt bekennen. / Statt beichten berichten – / auf das r kommt es an, / Alfabets Eckzahn.« (aus: An I.)
Aus dem Gedicht »Schwitzbad« der Dreizeiler: »(von Angst frei, zu vergehn; dass die vergeht, / die Angst – frei auch von dieser Angst) ! Ah Dampf! / Gib atemnehmend Atem, lös den Krampf!«
Alles nur sinnliche Poesien? Nicht auch Kampf der Worte gegen den Krampf der Gesellschaft?
Ich habe Gosse-Gedichte auch brisanter lesen können. Sie übten poetisch verdreht Solidarität.
Peter Gosse fragt im Schwitzbad-Gedicht: »Wie rede ich? Schwitzkastenhaft verdreht.«
Anders ging es nicht. ARTus
Der Leipziger Lyriker Peter Gosse beging am vergangenen Mittwoch seinen 72. Geburtstag. Zeichnung: ARTus