Alberto Giacometti in Wolfsburg: Vom Ursprung des Raumes
Verstanden habe ich endlich, wenigstens ansatzweise, warum Giacometti seine Menschenfiguren so schmal gestaltet, das immerhin hat die Ausstellung erreicht: Er gestaltet gar nicht die Figur selbst, er gestaltet den Raum um sie. Und schafft damit der Figur den Freiraum, ihrerseits Raum zu gestalten. Es entsteht ein reizvolles Wechselspiel zwischen Schöpfer und Geschöpf, bei dem beide stark zurückgenommen sind. Es geht nicht um die Präsenz des Menschen, der Figur, wie sonst überall in der Alltagswelt, heute mehr denn zu Giacomettis Zeit (schon gar nicht um die Präsenz des Künstlers) - im Gegenteil, je geringer die Präsenz im herkömmlichen Sinne, um so stärker die Bedeutung; es entsteht also, könnte man auch sagen, dann doch wieder Präsenz auf einer höheren Ebene, eine, die nicht-physisch ist. Zeitweise hat der Künstler die Reduktion der Figuren so ins Extrem getrieben, dass sie kaum noch sichtbar sind - aber bis in den Weltraum ausstrahlen. Die Wolfsburger Ausstellungsgestalter haben die Präsentation der rund 60 Skulpturen (30 Gemälde und einige Grafiken gibt es außerdem) so inszeniert, dass man als Zuschauer das alles empfindet und begreift.
Wohin schreitet dieser Mensch? Kann er den Raum zwischen ihm und dem Künstler oder Betrachter überwinden, oder geht er weit darüber hinaus?
"Die Plastik ruht im Leeren", hat Alberto Giacometti in einem Gespräch gesagt. "Man höhlt den Raum aus, um das Objekt zu konstruieren, und das Objekt schafft seinerseits einen Raum. Der Raum selbst, der zwischen dem Subjekt und dem Bildhauer liegt." Die meisten Werke sind in einem winzigen Atelier von vielleicht 25 Quadratmetern in Paris entstanden. In der Stadt war der Künstler durchaus präsent, man kannte und traf ihn - aber in dem kleinen Atleier war er für sich "wie in einem Käfig" und konnte nur so arbeiten. Sein Schaffen war von dramatischen Krisen bestimmt, er war der "Protokünstler des Scheiterns" (wie es in einem Text einer Besucherinformation heißt). Die verschiedenen Phasen: schreitende Menschen, stehende, fallende, winzige Figuren, größere langgestreckte, Körperteile, zuletzt nur Köpfe.Manchmal wird der Käfig mit gestaltet.
Zum ersten Mal nach 12 Jahren präsentiert das Kunstmuseum Wolfsburg das reife Werk Alberto Giacomettis in einem umfassenden Überblick. Die rund 60 Skulpturen und 30 Gemälde, einige Zeichnungen werden auf etwa 2000 qm Ausstellungsfläche in extra geschaffenen, maßgeschneiderten Räumen so gezeigt, dass die Kernidee, das Verhältnis zum Raum sichtbar wird.
Giacometti sei der "Erfinder des virtuellen Raums" wird sogar behauptet. Das aber geht mir zu weit, ich mag es nur als modernes Marketingargument akzeptieren, damit auch junge Zuschauer kommen. Raum ist, wenn man so will, doch eigentlich immer virtuell, man kann ihn nicht mit Händen fassen. Angemessener schiene mir persönlich, wenn man den Raum, den Giacometti gestaltet und den die Figuren selber gestalten als "spirituellen Raum" bezeichnen würde.
Alberto Giacometti: Der Ursprung des Raumes. Retrospektive des reifen Werkes. Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg vom 20. Nov. 2010 bis 6. März 2011.
Text: Dr. Helge Mücke, Hannover; Zitat und einige Informationen aus den Pressemitteilungen des Museums. Die Bilder wurden als Pressefotos vom Museum zur Verfügung gestellt, sie sind nicht frei verfügbar; im Einzelnen von oben nach unten:
Homme qui marche I/Walking Man I, 1960, Bronze, 180,5 x 27 x 97 cm, Collection Fondation Giacometti, Paris (Inv. Nr.: 1994-0186), Photo: Jean-Pierre Lagiewski © ADAGP / Fondation Giacometti, Paris / VG Bild-Kunst, Bonn 2010; La Cage/The Cage, 1950, Bronze, 175,6 x 37 x 39,6 cm, Collection Fondation Giacometti, Paris (Inv. Nr. : 1994-0177), Photo: Jean-Pierre Lagiewski © ADAGP / Fondation Giacometti, Paris / VG Bild-Kunst, Bonn 2010.