Akos Domas Der Weg der Wünsche ist ein sehr stiller Roman, dessen Kraft sich ganz langsam entfaltet, der aber lange nachwirkt. Er ist außerdem einer der wenigen unter den 20 Nominierten der Longlist, welchen ich bis zur letzten Seite gelesen und dabei Freude und Glück empfunden habe. Ich wachte morgens auf, und meine ersten Gedanken waren: Kaffee trinken. Doma lesen. Mit jedem Tag ist mir die kleine ungarische Familie ein Stück mehr ans Herz gewachsen, habe ich intensiver mit Teréz, Károly, Misi und Bori gelacht und gelitten.
Schaue ich zurück auf den Tag der Veröffentlichung der Longlist, dann war es genau dieses Buch, das mich neben Bodo Kirchhhoffs Widerfahrnis am meisten interessierte. Dass Doma die Geschichte einer Flucht aus dem Ungarn der 70er Jahre erzählt, hatte mich sofort neugierig gemacht. Genau wie der Junge Misi im Roman, hat auch Akos Doma als Jugendlicher mit seiner Familie Budapest verlassen, um über Italien und die Schweiz nach Deutschland zu flüchten. Ganz subtil beschreibt er die stille und unauffällige, aber tiefgreifende Veränderung einer Familie unter den Bedingungen der Flucht. Wie schwer es ist, in einer einzigen Nacht alles los zu lassen, was einem lieb und wichtig ist. Wie sich das anfühlt, ein unbesorgt fröhliches Elternpaar zu geben, das unter strengster Verschwiegenheit den ahnungslosen Kindern vorspielt, in den Urlaub an den Plattensee zu fahren. Und wie all dies zur extremen Belastungsprobe für die gesamte Familie wird. Ganz besonders dann im Auffanglager in Italien, wo die Tage mit Nichtstun vergehen. Sitzen, lesen, sich ablenken, nicht ans Warten denken, ohne zu denken warten, in dumpfem Gleichmut (S. 215). In diesem Getümmel von Menschen, ihrem Geschwätz, ihrer Trivialität, ihren falschen Träumen (S. 216). Als schließlich klar wird, dass die Macht der ungarischen Staatssicherheit auch weit über die Grenze und die Adria bis nach Italien reicht, scheint die Familie fast zu zerbrechen.
Doch eine mutige Bori und ihre beherzt reagierende Mutter Teréz ändern den dramatischen Verlauf der Geschichte. Für mich sind das Mädchen und seine Mutter die stillen Heldinnen dieser Geschichte. Zwei unglaublich starke Charaktere. Doch das Aufatmen ist nur von kurzer Dauer, dann wartet in den Schweizer Alpen die nächste Belastungsprobe auf die Familie. Es beeindruckt, wie sie auch hier noch mit viel Liebe und Achtsamkeit miteinander umgehen, wie sie trotz harter Bedingungen zusammenhalten, obwohl doch alles sehr brüchig scheint. Diese Familie ist irgendwie eine besondere!
So sind Teréz und Károly ganz wundervoll sorgende Eltern, denen das Risiko der Flucht natürlich bewusst ist. Doch war beiden der Druck des ungarischen Regimes einfach unerträglich geworden, und die geliebte Heimat für immer zu verlassen, der einzige Weg. Misi wiederum ist ein sensibler Junge mit Höhenangst, der seinen Hund Krapek abgöttisch liebt. Die 16jährige Bori ist ein typisches Teenagermädchen, das hier und da gegen die Eltern rebelliert. Jeder in dieser kleinen Familie hat seine kleinen Ticks und Macken. Doch ist nichts in dieser souverän erzählten Story irgendwie aufgesetzt oder gewollt schräg. Ohne nach Effekten zu jagen, erzählt Akos Doma kraftvoll und nuanciert. Hier stimmt jeder Satz, ich kann der Chronologie des Romans wunderbar folgen, auch wenn es in kleinen Rückblicken in die Zeit der Jugend von Teréz und Károly geht. Beide haben im Krieg Schlimmes erlebt, sind seelisch verwundet und dennoch stark. Eine leise Melancholie schwingt durch diese Geschichte, trägt mich durch sie hindurch – mit all ihren Höhen und Tiefen.
An einer Stelle des Geschehens fragt Teréz ihren Onkel Barnabás nach dem Buch, welches er gerade liest. Seine Antwort: ‚Die Tatarenwüste‘. Ein kleines Büchlein, aber es wiegt hundert vermeintlich große auf. Manchmal, sehr selten, gelingt einem Künstler so etwas und auch dann meist nur ein Mal (S. 63).
Für mich ist Der Weg der Wünsche ein Roman, der mindestens zehn andere Romane aufwiegt. Und dem hoffentlich weitere folgen werden. Von Akos Doma bisher erschienen sind Der Müßiggänger und Die allgemeine Tauglichkeit. Der 1963 in Ungarn geborene Autor lebt in Deutschland. Welche ungarischen Gegenwartsschriftsteller kenne ich eigentlich noch? Kann man Doma mit irgendwem vergleichen? Ich denke an Ágota Kristóf, die bereits 1956 und kaum zwanzigjährig Ungarn verlassen hat und in die französische Schweiz emigriert ist. Ihren einfachen Stil in Das große Heft schätze ich sehr. Doch am ehesten erinnert Domas Roman mich wohl an die Stimmung und Atmosphäre in Der Schwimmer von Zsuzsa Bánk – eine Geschichte, die im Ungarn des Jahres 1956 spielt.
Akos Doma. Der Weg der Wünsche. Rowohlt Berlin Verlag GmbH. 2016. 334 Seiten. 19,95 €