ADHS bei Erwachsenen: Knoten im Alltag einer Mutter

ADHS bei Erwachsenen: Knoten im Alltag einer MutterADHS Erwachsene

ADHS oder: Ständig sind 20 Tags offen (Bild: Pixabay)

ADHS: Standiges Chaos im Kopf

In meinem Kopf sind ständig 20 Tabs offen, mindestens einer hängt sich immer auf, und ich weiss nicht, woher diese verdammte Musik kommt.

Dieser Spruch geistert so oder ähnlich schon länger durchs Internet. Und so sehr ich immer wieder darüber lachen muss, so bleibt mir auch manchmal das Lachen im Halse stecken. Wahrscheinlich findet sich jeder immer wieder einmal in so einer Situation. Aber stellt euch einmal vor, es wäre IMMER so, und es würde euch manchmal eure gesamte Energie kosten, dagegen anzukämpfen, um irgendwas fertig zu machen. Anstrengend.

ADHS Erwachsene

ADHS oder: Wenn der Kopf voll ist (Bild: Pixabay

Kein Platz für die eigenen Gedanken

Ich stehe an der Wohnungstür und verabschiede meine Familie. Es ist laut und unruhig. Meine Gedanken haben da keinen Platz. Es geht nur um Organisatorisches.

Hat der Grosse das Geld für den Ausflug, der Kleine die Bücher der Schulbibliothek? Hat der Mann auch nicht sein Handy oder den Büroschlüssel vergessen? Wird es heute regnen?

Und ja, stimmt, heute Nachmittag fällt was aus. Muss ich gleich aufschreiben. Und ich muss noch zwei Arzttermine machen. Küsschen verteilen, Tür zu und Ruhe. Einmal durchatmen, und schon schiessen meine ganzen unterdrückten Gedanken an die Oberfläche. Wie geht es mir eigentlich? Was möchte ich für mich tun? Was muss im Haushalt getan werden?

Vor lauter Bäume den Wald nicht mehr sehen

Ich müsste den Frühstückstisch abräumen und hebe unterwegs ein paar liegen gelassene Kleidungsstücke auf. Stimmt. Waschen. Maschine stopfen, anschalten. Und da war noch diese Hose zu flicken. Und wenn ich das Nähzeug schon mal draussen habe, kann ich doch gleich noch das neue Upcycling-Projekt… wenigstens zuschneiden. Na gut, und abstecken. Aber dazu brauch ich den Esstisch. Der ist noch nicht abgeräumt. Geht auch auf dem Boden. Ich will es ja nur schnell fertig machen. Ich suche das Garn raus. Da fällt mir der angefangene Schal für den Sohn in die Hand…

Viele angefangene Projekte und lauter Unordnung

Langer Rede, kurzer Sinn:

Wenn meine Kinder nach Hause kommen, habe ich den Esstisch immer noch nicht abgeräumt, bin noch im Schlafanzug und habe drei angefangene Projekte mit entsprechender Unordnung mehr.

Und ich bin gefrustet, dass ich eigentlich nichts fertig gemacht habe. Noch nicht mal die Wäsche aufgehängt, die schon seit Stunden fertig in der Waschmaschine wartet und die ich erst bemerken werde, wenn ich auf die Toilette muss.

“Die Wohnung ist der Spiegel unserer Seele.” fällt mir oft ein. Ja, leider, denke ich dann. Und dann sehe ich, was genau diese Wohnung mit meinen Kindern macht. Sie kramen auch Kreativmaterial raus, lassen sich erklären, was ich mit den angefangenen Sachen vorhabe und bringen ihre Ideen dazu ein. Und mit dem Leben in der Bude zwinge ich mich dazu, jetzt mal ein anständiges Familienleben zu gestalten. Und wenigstens den Tisch abzuräumen, mich zu duschen und den Kindern ihre 1000 Fragen zu beantworten.

Chaotisch, aber nicht ungeregelt

Wenn meine Kinder ihre Freunde zu Besuch haben, sind die oft überrascht von unserem Haushalt. Ich bespiele und bewirte die Kinder selten. Sie müssen ihre eigene Fantasie benutzen. Sie dürfen in unserem Recyclingmüll Bastelsachen suchen, die Eisenbahn durch die ganze Wohnung bauen, und wenn ich zufällig Lust auf Kuchen hatte, der aber zu spät fertig ist, gibt es eben ausnahmsweise zum Abendessen Kuchen. Was wirkt, wie das pure Chaos, ist aber trotzdem nicht ohne Regeln. Im Gegenteil:

Wir brauchen sehr klare Regeln, um woanders Chaos zulassen zu können. Und wir können improvisieren.

Impulse im Zaum halten, kostet Energie

Und dann gibt es die Tage, an denen mir alles über den Kopf wächst und ich nicht darin versinken will. Dann reisse ich mich zusammen und mache alles, wie es sein soll, verscheuche alles, was ablenkt und bleibe bei der Sache. Das bedeutet für mich einen wahnsinnigen Energieaufwand, einen Teil meiner Impulse im Zaum zu halten. Dann bin ich schon mittags völlig fertig und schaffe am Nachmittag kaum noch was. Für meine Kinder mobilisiere ich meine letzten Kräfte und muss abends früh ins Bett. Auch nicht das Wahre, oder?! Zumindest gab es diese kleinen und grossen Teufelskreise bisher. Mein Kopf kam nie zur Ruhe. Auch nachts nicht wirklich.

Parallelen zum ADHS beim eigenen Kind

Seit meinem 14. Lebensjahr ist die Migräne mein ständiger Begleiter. Mal mehr, mal weniger. Und dann kam mein behandelnder Arzt darauf, mich auf ADHS testen zu lassen. Ich war gespannt, weil wir diese Diagnose gerade bei unserem Ältesten bekommen hatten. Und irgendwo muss sowas ja herkommen. Zumindest konnte ich mich oft mit seinem Stress, seiner Anstrengung und fehlenden Energie identifizieren. Er brauchte noch mit acht Jahren eigentlich Mittagsschlaf, was mit keinem Stundenplan vereinbar war. Und nach der Schule mussten wir viel zu oft Dinge absagen, die ihm eigentlich Spass machen. Einen Versuchstag mit Ritalin kommentierte er mit: “Das ist toll! Ich kann jetzt so viel lesen und Cello spielen, wie ich will und muss nicht mehr dauernd aufstehen.”

ADHS ist nicht gleich ADHS

Was nämlich oft vergessen wird: Nicht jeder, der ADHS hat, ist auch gleichzeitig wild und braucht nur Bewegung, damit alles gut ist. Denn sogar bei Bewegung braucht man einen Fokus. Sonst fällt man hin, verletzt sich oft oder kann nicht mit anderen zusammen spielen. Und die, die gerne ruhig wären, fühlen sich von einer inneren Kraft getrieben, gegen die sie nicht alleine ankommen. Bei Kindern und Jugendlichen kann dieses innere Spannungsfeld zu späteren Süchten führen. Alkohol-, Drogenabhängigkeit oder Spielsucht sind nicht selten.

Anfällig für Süchte und Abhängigkeiten

Und auch ich wurde nach dem Test nach Süchten und Abhängigkeiten gefragt. Ich habe erzählt, wo ich anfällig bin, mich aber deshalb davon – zumindest von Zeit zu Zeit – fernhalte, um eine Abhängigkeit zu vermeiden. Das hat mir gezeigt, wie sehr ich in meinen selbst gesteckten Grenzen lebe und dass sie mich bisher immer gerettet haben. Es ist mir aber auch aufgefallen, wie viel Energie mich das tagtäglich kostet, einfach nur ein “normales Leben” zu führen. Und plötzlich waren meine dauernde Anspannung und die Migräne in ein anderes Licht gerückt. So, wie viele andere Dinge, die mir oft nicht gelingen wollten.

Mit Ritalin Ruhe gefunden

Ich habe ADHS. Bin ich krank? Sollte ich mich mehr ausleben? Oder mehr einschränken? Was brauche ich, damit mir mein Alltag einfacher von der Hand geht? Da Ritalin nicht körperlich abhängig macht und ich bei meinem Sohn Entspannung und persönliche Erfolge sehen konnte, habe ich das auch probiert. Und der Effekt war der Gleiche.

Früher habe ich mir oft gewünscht, mal in mir selbst ruhen zu können und nicht immer meinen Gedankenfetzen nachjagen zu müssen. Und ich habe Menschen bewundert, die das konnten. Sie haben mich gleich mit geerdet. Eine der grossen Qualitäten von ADHS ist es, viel mehr als andere wahrzunehmen und Stimmungen in sich aufnehmen zu können. Jetzt habe ich die Chance, diese Ruhe selbst in mir zu haben. Und das wiederum wirkt sich auch auf unser Familienleben aus. Ich bin weder weniger kreativ, noch weniger aufmerksam.

Ich muss nur nicht immer mit 20 offenen Tabs gleichzeitig jonglieren und muss die Musik, die von irgendwoher kommt, nicht hören, wenn ich nicht will.

Wer noch mehr über ADHS bei Erwachsenen wissen möchte, dem sei die Broschüre von ADHS 20+ ans Herz gelegt. Ich habe mich darin zum Teil wiedergefunden. Passenderweise heisst die Broschüre Sprunghaftes Genie und kreative Chaotin.

Gibt es unter euch ADHS-Betroffene (Erwachsene oder Kinder)?  Welche Erfahrungen habt ihr gemacht? Wir würden uns sehr freuen, wenn wir mit Gunda’s Erfahrungsbericht Aufklärungsarbeit leisten und das Tabu „ADHS und Ritalin“ offen diskutieren können. Wir sind gespannt auf eure Rückmeldungen!

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Ich bin Gunda, 44 Jahre alt, verheiratet und habe zwei quirlige Söhne (7 und 9). Ich bin gebürtige Berlinerin, wohnhaft in Zürich, Weltenbürgerin ohne Scheuklappen, voller Neugierde, einem Hang zu Chaos und jeder Menge kreativer Energie. Ich bin Chorsängerin (im Gemischter Chor Zürich), lese gerne, interessiere mich für Psychologie, Dinge mit Geschichte (Möbel, Schmuck und Kleidung), Mode, Sprache und Japan, wo ich zwei Jahre gelebt habe. Meine besondere Leidenschaft gilt dem Upcycling von gebrauchter Kleidung, aus der ich in meiner Loni-Kreativwerkstatt typgerechte Unikate fertige.

Hier findet ihr einen weiteren interessanten Beitrag von Gunda:

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