Addio, Voronezh – Auf Wiedersehn, Russland. Ein Fazit.

Mein schlechtes Gewissen ließ es in den letzten Wochen nicht einmal zu, in der Lesezeichenliste auf den Link zu meinem Blog zu klicken. Meinen Vorsatz, regelmäßig Neues aus Voronezh über den Äther gen Westen zu schicken, habe ich leider nicht eingehalten. Nicht, dass ich dazu keine Lust gehabt hätte. Und erst recht nicht, dass es in den letzten zwei Monaten nichts Erzählenswertes gegeben hätte. Ich hatte schlicht und einfach so gut wie keine Zeit dafür. Und wenn ich Zeit hatte, dann fehlte es an Energie. Sich jeden Tag mit der russischen Politik und Gesellschaft zu beschäftigen ist, wie sich herausgestellt hat, äußerst kräftezehrend. Besonders dann, wenn sich Zustände und Entwicklungen der Logik und dem gesunden Menschenverstand entziehen; besonders dann, wenn die abstrakte Macht des Staates (der wir überall ausgesetzt sind) eine konkrete Form annimmt und einen negativen Einfluss ausübt; und besonders dann, wenn der Glaube an die Macht des Volkes und der Gesellschaft Stück für Stück demontiert wird.

Nun neigt sich ein nächster Russland-Aufenthalt seinem Ende zu – und es ist an der Zeit, ein Fazit zu ziehen. Ich verlasse Voronezh im Zwiespalt, mein Seelenzustand schwankt zwischen Genugtuung und Enttäuschung, zwischen Zufriedenheit und Besorgnis. Genugtuung und Zufriedenheit deshalb, weil ich wohl noch nie zuvor innerhalb von drei Monaten so viel gelernt und so viel Neues erfahren habe wie seit meiner Ankunft in Russland Ende Mai. Ich habe einen Einblick in die Arbeit einer Menschenrechtsorganisation erhalten, Seminare besucht und mich (endlich) gründlich mit der Menschenrechtsthematik auseinandergesetzt; ich habe mir beigebracht, selbstbewusster und selbständiger durch das Leben zu gehen, mich von Schwierigkeiten jeglicher Art nicht aus dem Konzept bringen zu lassen und über Sachen (laut) nachzudenken, die mir bis dahin selbstverständlich zu sein schienen. Ich werde die russisch-finnische Grenze in gut einer Woche als Mensch überqueren, der von den vergangenen drei Monaten viel für das Leben mitnimmt.

Enttäuschung und Besorgnis deshalb, weil mich die Beschäftigung mit der oben genannten Menschenrechtsthematik, im Besonderen mit deren Nicht-Einhaltung und Verletzung, zutiefst ernüchtert hat. Ich bin enttäuscht von der Politiker- und Beamtenkaste; was nun nicht heißen soll, dass ich früher große Hoffnungen in die Politik und das Beamtentum gelegt habe – im Gegenteil. Dennoch glaubte ich daran, dass die fundamentalsten Rechte in unseren Breiten nicht dem Machterhalt und/oder wirtschaftlichen Interessen willen geopfert werden. Zumindest wollte ich daran glauben. Mit jedem Tag hier in Russland allerdings wuchsen die Enttäuschung, die Wut und der Zorn – und zwar nicht nur auf die Politik Russlands, die in den vergangenen Monaten mehr für den Niedergang des Landes geleistet hat, als in den Jahren zuvor, sondern auch auf jene der Europäischen Union und deren Organe, sowie jene der einzelnen Staaten, die vor Schönfärberei und bewusster Ignoranz nur so strotzt. Anders kann ich es mir einfach nicht erklären, warum wir nicht in der Lage sind, Maßnahmen gegen Menschenrechtverletzungen als auch Verstöße der Europäischen Menschenrechtskonvention zu ergreifen, die weiter gehen, als ein vorsichtiger Fingerzeig. Gepoltert wird häufig, gehandelt so gut nie. So scheiterten die geplanten wirtschaftlichen Sanktionen gegen Weißrussland am Widerstand Sloweniens, das seine Interessen in Gefahr sah – Interessen in Form eines Hotels einer slowenischen Hotelkette in Minsk. Und überhaupt verhindern zu viele Ansprüche, dabei vorwiegend wirtschaftlicher Natur, ein mutiges Einschreiten westlicher Politiker und/oder Institutionen. Dies bereitet mir Sorgen – genau so, wie die Ineffizienz des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und der UNO.

Nur gegen die Politik und hohe Institutionen zu wettern ist allerdings falsch. Noch eine Komponente spielt besonders hier in Russland eine große Rolle: die Gesellschaft und deren Meinung. Ich wage es, den allgemeinen Zustand der russischen Zivilgesellschaft als einen der Hauptgründe für die Entwicklungen seit dem Machtantritt Putins zu bezeichnen. Obwohl der Eindruck vermittelt wird, dass sich Russland endlich gegen zunehmende Repressionen und den Rückgriff auf stalinistische Methoden wehrt, sieht die Wirklichkeit anders aus. Man darf nicht vergessen, dass sich ein Großteil der Russen nicht einmal passiv gegen das Regime auflehnt; man darf nicht vergessen, dass die Mehrheit für eine Haftstrafe gegen „Pussy Riot“ ist; man darf nicht vergessen, dass viele davon überzeugt sind, die Opposition und die Proteste würden vom Ausland aus gelenkt und finanziert (Stichwort: ausländische Agenten); und man darf nicht vergessen, dass Xenophobie in all ihren Formen und die Angst vor allem Neuem und vor Veränderungen in der konservativen russischen Gesellschaft tief verankert ist. Besonders das ist besorgniserregend. Denn die Regierung kann ausgewechselt werden, das Volk allerdings nicht.

Ich verlasse das Land deshalb in Sorge und in Ungewissheit, was in nächster Zeit passieren wird und wie es sein wird, wenn ich – so hoffe ich – in ein paar Monaten zurückkehre. Wie es scheint, überwiegen die negativen Gefühle. Doch der Schein trügt. All die positiven Momente, die Erfolgserlebnisse und neu gewonnene Freunde wiegen all das Negative auf. Und Russland liebe ich nach wie vor.



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