Die Serie „Vermischtes" stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.
1) "Ich wollte nicht mehr leben" (Gesprächsprotokoll)
Ich habe in der Provinz Gegharkunik studiert. An der Universität lernte ich meinen Mann kennen. Nach dreizehn Jahren heirateten wir. Weder Freunde noch Familienmitglieder konnten sich vorstellen, dass wir uns jemals scheiden lassen. Damals wünschte ich mir, bei meiner Schwiegermutter zu leben, denn wir hatten eine gute Beziehung. Als ich meine erste Tochter bekam, ahnte ich noch nichts. Wir benannten sie nach ihrer Großmutter. Doch die fragte nur: 'Warum eine Tochter, warum kein Sohn?' Dann starb mein Schwager. Meine Schwiegermutter hatte drei Söhne: Einer war nun tot, der zweite geschieden, der dritte mein Mann. Ich war wieder schwanger. Meine Schwiegermutter hatte bereits zwei Enkelsöhne, und auch ich sollte einen Jungen bekommen, der das Familienerbe weiterführt. Ich machte einen Ultraschall: erneut ein Mädchen. Damals war meine Tochter sieben Monate alt, und meine Schwiegermutter kümmerte sich lieber um die Enkelsöhne als um sie. Zu dem Zeitpunkt machte ich den Haushalt, obwohl ich mich nicht gut fühlte. Als ich abends mit meinem Baby im Bett lag, musste ich mich erbrechen. Meine Schwiegermutter wollte, dass ich trotzdem mitesse. Mein Mann kam nach Hause, küsste erst seine Mutter, danach mich. Dann schrie meine Schwiegermutter: 'Deine Frau spricht nicht mit mir!' Daraufhin prügelte mein Mann mich. Meine Schwiegermutter nahm alle Kissen und Decken von unserem Ehebett und machte in einem anderen Raum das Bett für ihren Sohn. Ich verbrachte die Nacht eingewickelt in ein Badetuch. Als meine Schwiegermutter forderte, dass ich abtreiben soll, verließ ich weinend das Haus. Ich vertraute mich der Schwester meiner Schwiegermutter an, doch die verpfiff mich. 'Warum lüftest du unser Geheimnis?', schrie meine Schwiegermutter, als ich wieder zu Hause war. (Luisa Willmann, SpiegelOnline)
Ich verlinke diese Erzählung anstatt den ebenso empfehlenswerten Erklärartikel derselben Autorin, weil trotz all der bedrückenden Fakten aus letzterem die Erfahrung aus erster Hand noch bedrückender und einschneidender ist. Was mir angesichts der katastrophalen Zustände dieses toxischen Patriarchats besonders hervorhebenswert scheint ist die Rolle der Frauen in der Legitimierung und Fortführung dieses Systems. Es ist ein nicht auszurottender vulgärfeministischer Mythos, dass das Patriarchat einzig und allein durch Männergewalt entsteht und aufrechterhalten wird. Tatsächlich basiert es schon immer darauf, dass Frauen willfährige Helfer sind (genauso wie die Mehrzahl der Männer, die ebenfalls Opfer dieses Systems sind; das Patriarchat schadet allen). Gründe dafür sind vielfältig und im Kern menschlich. Wer sein ganzes Leben in einem bestimmten Wertesystem aufgewachsen ist, selbst darunter gelitten und gewaltige Opfer zu seiner Aufrechterhaltung gebracht hat, wird sich schwer tun, wie die oben beschriebene Schwiegermutter plötzlich das bisherige Leben als Irrtum zu begreifen. Das ist generell viel verlangt, von jeder Person. Es erinnert mich an die Diskussion unter einem anderen Post über das fundamentale Ändern der eigenen Meinung; es heißt immer auch, seine eigene Vergangenheit zu verleugnen beziehungsweise zu verurteilen. Erneut, das schaffen nur wenige. Damit stellt sich aber auch die Frage, wie man gegen diese Problematik vorgeht. Durch Migration kommt sie ja auch durch die Hintertür wieder in Deutschland an (wo sie gerade in christlich-konservativen Kreisen sowieso nie weg, sondern allenfalls verdeckt war). Ich denke, die einzige Möglichkeit hier ist, den gesellschaftlichen Konsens zu ändern. Dafür braucht es laute und klare Bekenntnisse, gerade von Autoritätspersonen, und eine stetige Aufklärungsarbeit. So was passiert nicht über Nacht, und es ist anstrengend. Aber es ist notwendig, um dieses millionenfache Leiden zu verhindern.
2) The real reason Kamala Harris is tanking
The real reason she's falling is that the more voters learn about Harris' decade-and-a-half record, first as a San Francisco prosecutor and then as the California attorney general, the more they recoil. And rightly so. Harris has long billed herself as a "progressive prosecutor." To most people, that would strike as oxymoronic. But to her this meant using the carceral state that conservatives like to tackle social problems that progressives care about. She's got the mindset of a cop who wants to save you not from the bad guys but yourself. "She repeatedly fought for more aggressive prosecution not just of violent criminals but of people who committed misdemeanor and 'quality of life' crimes," Reason's Elizabeth Nolan Brown noted after an exhaustive look at Harris' record. What kind of "quality of life" crimes did she crackdown on? Panhandling, prostitution, graffiti, loitering, driving under the influence, and living in an unapproved homeless encampment. This issue set would have made former New York Mayor and now Trump confidante Rudy Giuliani proud. It is also one that targets people of color the most. Of all people, Harris should have understood that, especially since she was railing against mass incarceration and its disparate impact on poor and black communities at Yale University in 2006, when she was San Francisco's district attorney and launching her "quality of life" crackdown. But her most notorious "quality of life" crusade that disproportionately targeted people of color was against school truancy. She first launched it as the district attorney of San Francisco, an office she won after defeating her truly progressive boss who had alienated police unions with his alleged softness on crime, and then scaled it up when she became California's attorney general. (Shika Dalmia, The Week)
Die Parallele für Kamala Harris ist für mich ziemlich eindeutig: Sie ist der Jeb Bush der Democrats. Ebenso wie der Bruder des 43. US-Präsidenten war Harris auf dem Papier eine starke Kandidatin. Weiblich, mit Migrationshintergrund, aber gleichzeitig mit einer die moderate Mitte ansprechenden tough on crime-Verganhenheit; what's not to like? Wie Bush musste Harris die Erfahrung machen, dass sie schlichtweg aus der Zeit gefallen ist. So unvorbereitet, wie Jeb Bush 2016 in die offene Kreissäge von Trumps Kritik am Irakkrieg lief und völlig damit auf dem falschen Fuß erwischt wurde, dass seine Positionen nicht mehr Mainstream sind, so wurde Harris dieses Jahr davon überrascht, dass ihre Vergangenheit als Staatsanwältin kein asset, sondern eine schwerwiegende Belastung waren. Ihre konstruierte Wandlung zur progressiven Vorkämpferin nahmen ihr nicht genug Leute ab, und es gibt ohnehin akzeptable Alternativen dafür, so dass sie keine Nische besetzen kann. Manchmal hat man einfach Pech. Da können sich Bush und Harris ja mal beim Kaffee drüber austauschen.
3) Civil War Begins When the Constitutional Order Breaks Down
Violence is the magical substance of civil war. If, by definition, political groups in opposition have also abandoned the legitimacy of the old order, then a successor constitutional order with working politics cannot be birthed without violence. Hence violence is the only force that can bring about a new order. This is why all memorable civil wars, and all parties, enthusiastically embrace violence. The character of civil war is existential. The breakdown of the old order forces frightening prospects on society. If constitutions represented a collective source of authority, in its violent replacement are suddenly two opposing and inimical pretenders, each crying for both allegiance and punishment. Moreover, one party's victory is the inevitable loss of the other's way of life. Hence in such conflicts, the entire society must choose sides, and it is an all-or-nothing choice. Moderates and undecided, and those peaceful fence sitters all are forced to join warring factions. In civil war, perhaps the greatest violence, in the heart, is the aggressive coercion to join a warring cause. War becomes a great, mutual ritual of resolution between enemies-once-brothers. Here, longstanding customs and norms, paradoxically, come right into play. While old political norms may have been discarded, old conflict norms again take center stage. If there is to be a war, certain expectations, even hallowed traditions come into play: How battle should be formed, and also too, the pathways battle resolves. (Michael Vlahos)
Der Artikel ist unbedingt in seiner Gänze empfehlenswert; Vlahos legt eine konsequent durchdachte Theorie der Eskalation zum Bürgerkrieg dar. Diese ist zwar aus amerikanischer Sicht geschrieben, aber allgemein genug, dass sie für alle Leser relevant sein dürfte. Ich möchte an dieser Stelle vor allem auf zwei Punkte Bezug nehmen. Der erste ist, dass die politische Gewaltbereitschaft, die Vlahos zurecht als Grundbedingung für den Ausbruch des Bürgerkriegs nennt, aktuell noch völlig einseitig ist. Es ist der extreme Rand der extremen Partei der Republicans, die aktuell eine Begeisterung für politische Gewalt haben und von denen die Chose aktuell ausgeht. Das mag sich ändern, falls etwa die Antifa plötzlich zu einer anerkannten Strömung bei den Democrats wird (analog dazu, wie in den letzten Jahren white-supremacy-Terroristen zu anerkannten Mitgliedern der Basis wurden), aber danach sieht es gerade nicht aus. Solange dürfte der Bürgerkrieg zumindest auf sich warten lassen. Ebenso spannend ist der Vergleich mit dem Antebellum-Kongress, der in Vlahos Artikel nur sehr implizit vorkommt. Ich habe das in meiner Kurz-Besprechung von Joanna B. Freemanns "Field of Blood" bereits angesprochen, dass der Bürgerkrieg 1861-1865 in just dem Moment ausbrach, in dem die politische Gewalt, die über Jahrzehnte nur von einer Seite ausgeübt wurde (den damals noch konservativen, südstaatenzentrierten Democrats), von der anderen Seite (den damals neuen, im Nordwesten und Mittleren Westen aufgetauchten progressiven Republicans) erwidert wurde. Als die eingeübte Praxis der permanenten Einschüchterung und des politischen Terrorismus nicht mehr funktionierte, griffen die Südstaaten zum Mittel des Krieges. Die Lektion daraus ist ernüchternd. Entweder man lässt die Republicans heute mit ihrer Gewalt durchkommen, oder man riskiert den offenen Konflikt. Beide Alternativen sind zutiefst unattraktiv. Ich wüsste gerne einen Ausweg aus dem Dilemma. Irgendetwas, das die GOP wieder auf den Weg der Demokratie und der Vernunft bringt, bevor der Laden auseinanderfliegt. Aber ich sehe immer weniger, wie das funktionieren soll.
BOOMER: Millennials are such sensitive snowflakes, offended about anything and everything with their politically correct whining, all about them and their thin skin feelings, they would've never survived in the good old days without crying 24/7.
MILLENIAL: ok boomer BOOMER: https://t.co/H7uWaQuBwG - Jules Suzdaltsev (@jules_su)November 4, 2019
Ich kenne den Fall natürlich nicht, aber nehme auf jeden Fall schwer an, dass gleich eine aufgeregte ~ Debatte ~ über ~ Meinungsfreiheit ~ in Deutschland beginnen wird. https://t.co/LHKpnuPSSP
- Jonas Schaible (@beimwort) November 4, 2019
Ich habe dieses Fundstück hauptsächlich als weitere Belege dafür, wie heuchlerisch die ganze Debatte um "Meinungsfreiheit" aus dem rechten Spektrum ist. Es geht einzig und allein darum, dass man selbst sich als Verlierer einer Debatte begreift (nicht zu Unrecht im Übrigen). Aber genauso wie ich vor wenigen Jahren in einem Zustand permanenter Verärgerung war, weil meine Meinung zu Griechenlandkrise, Hartz-IV und Finanzkrise alles, aber nicht konsensfähig war. Man fühlt sich da ständig als unterdrückt, als mundtot gemacht und was weiß ich. Aber es ist halt einfach die Konsequenz, eine Meinung zu vertreten, die nicht mehrheitsfähig ist. Da muss man durch das Tal der Tränen oder die Klappe halt halten, wenn man das Echo nicht verträgt. Aber das hat nichts mit Einschränkung der Meinungsfreiheit zu tun, das ist einfach nur ein sozialer Effekt.
5) Most 2020 Candidates Have Something In Common: Their Supporters Also Like Warren
Denken Männer, die eine ,unberührte' Frau wollen, sie hätten ein alleiniges Recht auf den Körper ihrer Partnerin?
So ist es. In meinem Buch finden Sie das Zitat eines inzwischen veralteten Bundesgerichtshofurteils. Da haben lauter Männer entschieden, dass es als Ehefrau beim Sex nicht reicht, sich passiv zur Verfügung zur stellen, sondern die Frau sollte auch aktiv mitmachen. Darauf hätte der Mann ein Recht. Diese Dominanz der Männer ist das eigentliche Thema.
Sie schreiben, die Dominanz der Männer gefährde das Überleben der Menschheit.
Ja. Typen wie Trump oder Bolsonaro sind eine Gefahr für die Menschheit geworden. Wir erleben in der Politik den Dominanz-Typus par excellence. Bei Vergewaltigungen geht es um den Dominanzanspruch der Männer, die glauben, Frauen hätten ihnen zur Verfügung zu stehen. Und darüber hinausgehend geht es mir um die Dominanz der Männer, die glauben, alles, selbst die die Natur, müsse sich ihnen unterordnen. Die glauben, sie könnten ihre Ego-Ansprüche überall ausleben. Beides muss miteinander vernetzt werden. [...]
Ein wenig beachteter Punkt ist Erziehung. Wie wurden früher Jungen und Mädchen erzogen? In den Zeiten der Stammhalter wurden die Mädchen weniger geliebt und mehr geschlagen. Das war vor vierzig Jahren noch so. Jetzt sind wir beim Umgekehrten: Die Jungen werden weniger geliebt und mehr geschlagen. Die Krise der Jungen ist augenfällig. Wir haben noch nie einen so großen Leistungsabstand zwischen Jungen und Mädchen gehabt, schulisch und auch an Universitäten. Und das hat ganz stark mit einem Defizit der Väter zu tun. Mehr als die Hälfte der Jungen haben keine starke Beziehung zum Vater. Weil er sich aus dem Staub gemacht hat, oder weil er nur körperlich anwesend ist - weil er einfach seine Rolle nicht ausfüllt. Das ist ein Hauptfaktor für die Krise der Jungen.
Die haben ganz überwiegend eine liebevolle Mutter, die sich kümmert. Das steigende Selbstbewusstsein der Frauen, das überall spürbar ist, hat zur Halbierung der Vergewaltigungen in der Ehe beigetragen. Die Frauen lassen sich nicht mehr unterkriegen. Sie sind nicht mehr abhängig vom Mann, haben einen Job, stehen stark da. Völlig anders als noch vor 30, 40 Jahren. (Johanna Dürrholz, FAZ)
Wie bereits in Fundstück 1 angesprochen: Das Patriarchat schadet allen. Die ständige Gewalt - verbal wie körperlich - die in der toxischen Männlichkeitsvorstellung als zentrales Merkmal der Männlichkeit gilt, reproduziert sich danach ständig. Und das findet sich, wenig überraschend, in den Kriminalitätsstatistiken wieder. Gewalt ist männlich, und damit auch Gewaltverbrechen. Wenig überraschend geht die Kriminalitätsrate in der ganzen westlichen Welt überall dort seit mittlerweile Jahrzehnten stetig zurück, wo das Patriarchat auf dem Rückzug ist. Und ebenso wenig überraschend hält sich in den konservativsten Gegenden auch am ehesten die entsprechende Verbrechensrate. Es ist auch spannend zu sehen, wie Pfeiffer völlig zurecht die Frage der Erwerbstätigkeit betont. Das spannende hier ist, dass es sich dabei um ein genuin liberales Projekt handelt; es ist der ständige innere Widerstreit der CDU seit mittlerweile 15 Jahren, dass sie zwar einerseits im Geiste der neoliberalen Reformära (man denke nur an die Amtszeiten von der Leyens und Schröders im Familienministerium) die Frauenerwerbsquote erhöhen, auf der anderen Seite aber die traditionelle Einernährerfamilie erhalten wollen. Diese Quadratur des Kreises zerreißt die Partei nachhaltig; eine weitere praktisch nie diskutierte offene Flanke, in die die AfD stößt.
7) „Bedrohte Meinungsfreiheit" - Wenn rechte Märchen in die Mitte sickern.
Jemand, der in einer feministischen Gruppe sitzt und rechtsradikales Zeug von sich gibt, wird bestimmt" „keinen Spaß" haben (er wird dann nämlich Widerspruch ernten), jemand der in einer FPÖ-Ortsgruppe sitzt und für die multikulturelle Gesellschaft eintritt, wird auch „keinen Spaß" haben (er kann dann nämlich froh sein, wenn er nur Widerspruch erntet). Aber wo steht geschrieben, dass die Wahrnehmung meiner Meinungsfreiheit, nämlich das Vertreten von Meinungen im Kreis von Andersdenkenden auch noch Spaß machen muss? Wer groß von Meinungsfreiheit faselt und damit meint, dass er von Widerrede verschont zu werden habe, der hat eben von Meinungsfreiheit nichts verstanden. [...] Als hätte man rechtsradikalen Unfug in den letzten Jahren zu viel ausgegrenzt. Als wäre nicht das Gegenteil der Fall: verständnishubernde Demokraten haben den Verhetzern Bühne um Bühne geboten und viele ihrer Auffassungen stillschweigend in den öffentlichen Diskurs einer ganzen Gesellschaft sickern lassen. Das ist nicht passiert, weil man zu viel Widerstand gegen den autoritär-rabiaten Ungeist geleistet hat, sondern natürlich, weil man zu wenig geleistet hat. [...] Das sind Demokraten und Liberale im Zustand der Selbstaufgabe. Schon Meinungsumfragen werden so gestaltet, dass sich die Rechtsextremen bedanken können. Wie etwa die absurde Zahl, dass 63 Prozent der Deutschen finden, dass man heute nicht mehr seine Meinung frei sagen dürfe. Allerdings wurden da die Probanden in einer sehr umständlichen Frage gefragt, ob es tatsächlich so sei, „dass man aufpassen" muss, wie man sich wozu äußere. Nun, siehe oben, natürlich muss man das. Man musste das immer schon und zwar nicht, weil irgendwelche Meinungen real oder auch nur symbolisch verboten wären, sondern weil man eben überlegen muss, ob man den Streit, den man vom Zaun bricht, jetzt haben will oder nicht. Von daher ist es ja nur logisch, dass die Zahl derer, die zustimmen, eher hoch ist. Ich würde dem ja auch zustimmen - schließlich schicke ich auch nicht jeden Tweet ab, den ich formuliere. Manchmal sind es die lustigsten und provokantesten Tweets, die ich lösche. (Robert Misik)
Ich finde die ganze Diskussion um die angeblich bedrohte Meinungsfreiheit offen gesagt zum Kotzen. Wie in Fundstück 4 bereits angesprochen ist die Meinungsfreiheit nicht gefährdet. Ein großer Teil der Bevölkerung macht gerade nur die äußerst unangenehme Erfahrung, von der Mehrheit zur Minderheit zu werden und die eigenen Privilegien zu verlieren. Die ganzen so wortreich bejammerten Folgen - der ständige Widerspruch, die Abstempelung zum Ewiggestrigen, und so weiter - sind denjenigen, die immer schon aus einer Minderheitenposition argumentiert haben, bestens bekannt. Diese haben jetzt die befriedigende Erfahrung, den Kulturkampf gewonnen zu haben. Klar ist das ätzend. Aber es ist TEIL von Meinungsfreiheit, Demokratie und Pluralismus, nicht ihre Gefährdung. Die Forderung nach einer Stasis der öffentlichen Debatte und Schutz vor Widerspruch ist keine Forderung zum Schutz von Meinungsfreiheit, sondern ihrer Gefährdung.
8) Sanktionen sind weiterhin richtig
Geben heißt, bereit zu sein, dem Sozialstaat etwas zurückzugeben. Bereit zu sein, wieder selbst für sich zu sorgen. Bereit zu sein zu arbeiten. Auch wenn die Arbeit nicht der Traumjob ist. Denn was sollen eigentlich Geringverdiener sagen, die jeden Morgen aufstehen, mit ihren Kindern frühstücken, einer schlecht bezahlten Arbeit nachgehen, abends noch einen Nebenjob machen, damit es für den kleinen Urlaub an der Adria reicht? Diese Menschen leisten so viel und haben oft nicht viel mehr Geld als diejenigen, die für die Solidargemeinschaft wenig leisten. (Anita Fünffinger, Tagesschau)
Ich möchte nur diesen winzigen Ausschnitt kurz diskutieren, weil ich diese Argumentation für die so ziemlich dümmste halte, die man in dem ganzen Komplex um Hartz-IV und Sanktionen bringen kann (und ich bin dankbar, dass Stefan Pietsch in seinem Artikel da weitgehend drauf verzichtet hat). Wie sollen Geringverdiener hier reagieren? Höhere Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen fordern selbstverständlich. Prekäre, beschissen bezahlte Beschäftigung wird nicht dadurch besser, dass es unter einem eine Gruppe gibt, die noch mieser dran ist. Diese Art des Klassenkampfes von oben ist eine jahrtausendealte Tradition, und sie sollte von Medien wie der Tagesschau kritisiert, nicht befördert werden. Leider ist das eher Mainstream. Das hat übrigens nichts mit der Einschränkung meiner Meinungsfreiheit zu tun, das zu kritisieren. ;)
9) Warum die höhere Kaufprämie für E-Autos ein Eigentor für die deutsche Automobilbranche werden könnte // Führt die Kein-Autokauf-Prämie ein!
Diese Prämienerhöhung kann massiv nach hinten losgehen, wenn in 1-2 Jahren ein extrem günstiges E-Auto, zum Beispiel aus China, auf den deutschen Markt kommt und die Prämie ebenfalls in Anspruch nimmt. Man stelle sich beispielsweise etwa Ein/Zwei-Personen-Pods in der Größenordnung von Smarts oder Citroens Ami One vor, die für 2.000 bis 3.000 Euro Endpreis dank Prämie unter anderem(!) den Zweitwagenmarkt „ruinieren". Und eine Marktstufe höher gut(!) ausgestattete elektrische Erstwagen für um die 10.000€ dank Prämie... Der E-Automarkt -und damit also der gesamte künftige Automarkt- wird am unteren Marktende entschieden, also auch am Preis. Hohe Prämien öffnen den deutschen Heimatmarkt massivst für Angreifer von unten, die damit ihre Margen sichern können. (Die deutschen Hersteller stecken dabei längst in der hochpreisigen SUV-Falle fest. (Am schlimmsten sieht es bei BMW aus.)) Wenn die E-Auto-Prämie 1/5 oder mehr(!) des Preises senkt, dann ändert das alles. Wenn es dagegen nur ein 1/10 des Preises ausmacht (deutsches E-SUV), dann ist die Wirkung für Kunden & Anbieter nicht mehr so hoch. Also: Das Untere Marktsegment wird jetzt spannend. Zum einen, weil Elektromobilität (nicht nur, aber vor allem) an dieser Stelle neue Formfaktoren, also neue Arten von Vehikeln, erlaubt. Und zum anderen weil an dieser Stelle aufgrund der höheren Stückzahlen die Mobility-Softwareplattformen der Zukunft entstehen werden. (Marcel Weiss, Neunetz)Eine andere Idee wäre allerdings noch wirksamer für den Klimaschutz: Statt allen Bürgern 6.000 Euro zu geben, die sich ein E-Auto kaufen, könnte der Staat auch jedem Bürger über 18 Jahren eine Prämie für jedes Jahr zahlen, in dem er oder sie kein Auto besitzt. Denn wenn wir es mit der Mobilitätswende ernst meinen, reicht es nicht, sämtliche Autos mit Verbrenner durch Autos mit E-Motor zu ersetzen. Die Verkehrsinfrastrukturprobleme in den urbanen Zentren dieser Welt werden damit nicht gelöst. Und das ökologischste Auto ist nach wie vor eins, das gar nicht erst gekauft wird - egal, wie es angetrieben wird. Statt den Autoverkehr zu subventionieren, sollte die Bundesregierung daher lieber sträker den autolosen Verkehr subventionieren - beispielsweise durch fahrscheinlosen Nahverkehr. Schade, dass es dafür in Deutschland keine mächtige Lobby gibt. (Stephan Dörner, T3N)
Wir sehen in den beiden zitierten Artikeln die zwei Kernprobleme deutscher Mobilitätspolitik. Problem 1 ist, dass die Interessen der deutschen Autobauer, Veränderungen möglichst lange zu verschleppen und Steuergelder als Subventionen für überkommene Geschäftsmodelle abzuziehen, dank deren Lobbykraft praktisch alles dominieren und den nötigen Wandel damit verhindern, bis der Zusammenbruch der Branche (statt "nur" ihre schmerzhafte Umgestaltung) nicht mehr aufzuhalten sind. Ich kann mich erinnern, darüber geschrieben zu haben. Problem 2 ist, dass diese Politik dazu führt, dass das Auto als Verkehrsmittel generell ideologisch überhöht und absolut gesetzt wird, eine ideologische Verblendung, die Deutschland mit den USA teilt. Die Konsequenz daraus ist, dass alternative oder einfach nur bessere Verkehrsmittel keine Chance haben. Stichworte dafür wären eine Förderung des ÖPVN auf der einen und des Fahrradverkehrs auf der anderen Seite, die beide keine Subventionen für irgendwelche neuen, unerforschten Technologien brauchen würden, sondern bereits seit Jahrzehnten existieren.
10) Hochrangiger Beamter strafversetzt - Grüne fordern Aufklärung
Sachsen-Anhalt braucht Zuwanderung, wenn es politisch und wirtschaftlich nicht an Bedeutung verlieren will - das ist die unmissverständliche Botschaft einer aktuellen Studie des Leibniz-Instituts für Länderkunde. Die Untersuchung kam im Sommer dieses Jahres zum Abschluss und stellt der Landesregierung Sachsen-Anhalts kein gutes Zeugnis aus. Veröffentlicht wurde sie bisher nicht - dafür hat ein hochrangiger Beamter seinen Job verloren, unter dessen Führung die Studie 2017 in Auftrag gegeben worden war. Der Leiter des Referats Demografische Entwicklung und Prognosen wurde strafversetzt, wie die "Mitteldeutsche Zeitung" berichtet. Regierungskreise bestätigen dem SPIEGEL den Vorgang. Zudem wurde ein Disziplinarverfahren gegen den Beamten eingeleitet. Das zuständige Ministerium für Landesentwicklung unter Thomas Webel (CDU) beantwortete der Zeitung keine Fragen zu dem Fall und verwies auf den Persönlichkeitsschutz. Die Studie werde "geprüft". Dem Bericht zufolge war der nun versetzte Referatsleiter jahrelang öffentlich als Experte für Demografieprognosen aufgetreten und habe "über Zusammenhänge von Überalterung, Geburtenraten und Zuwanderung referiert". Inzwischen soll er als Referatsleiter für die "Sicherung der Landesentwicklung" arbeiten. (SpiegelOnline)
Während der arme Bernd Lucke die Blätter der Republik rauf und runter bedauert wird, weil er eine Vorlesung nicht halten konnte, wird auf der anderen Seite ein Beamter strafversetzt, weil seine Schlussfolgerungen der politische Meinung seiner konservativen Vorgesetzten nicht entsprachen. Nur interessiert das natürlich deutlich weniger, weil er sich, anders als Lucke, nicht auf seine privilegierte Stellung im Diskurs stützen kann. Dieser Vorgang ist für mich die beste Illustrierung, warum ich diesen Aufstand um Lucke für völlige Spiegelfechterei halte.
11) „Wir sind so verblieben, dass er uns rechtzeitig Bescheid geben würde" (Interview mit Walter Momper)
Für die ganze Welt kam die Maueröffnung am Abend des 9. November 1989 überraschend, vor allem auch jener Satz von Günter Schabowski, wonach „seines Wissens nach" die neue Reiseregelung ab sofort, unverzüglich, gelte. Waren Sie auch überrascht? Nein, so überrascht war ich nicht, denn wir hatten am 29. Oktober einTreffen mit Günter Schabowski, das Manfred Stolpe vermittelt hatte. Bei diesem Treffen hat er, am Ende eines sehr langen und aufschlussreichen Gesprächs, gesagt: Im Übrigen, wir werden Reisefreiheit geben. Da habe ich ihn angeschaut und gefragt: Was meinen Sie denn damit? Na ja, sagte er, jeder, der reisen und abhauen will, kann reisen und abhauen. Und jeder, der zurückkommen will, kann auch wieder zurückkommen. [...]Wie ging es weiter bei dem Gespräch am 29. Oktober? Wir fragten Schabowski: Was glauben Sie, wie viele Menschen kommen werden? Er antwortete: Och, da sollten wir uns mal keine Sorgen machen. Das könnten sie steuern. Es hätten überhaupt nur zwei Millionen DDR-Bürger einen Pass, und bis die alle ihr Visum hätten, das würde dauern. [...]Das war ja nun keine Kleinigkeit. Es gab ein paar große Probleme, die man der Reihe nach benennen konnte. Das wichtigste war natürlich: Wie transportieren wir die Leute? Die BVG sagte gleich: Wir können das. [...]Die BVG muss damals besser funktioniert haben als heute. Die hatten mehr Fahrzeuge als heute, da war kein Mangel dran, aber die haben das schon ganz gut hingekriegt. [...]Da waren Sie als Regierender Bürgermeister offenbar näher an der Realität als Schabowski. Sie ahnten, dass die Leute nicht warten würden, bis der Pass gestempelt wird. Klar, das war doch offenkundig. (Gerd Appenzeller, Tagesspiegel)
Ich halte dieses Interview vor allem aus historischer Sicht für interessant. Ja, die Öffnung der Grenze kam für den Westen nicht so überraschend, wie das gerne im Narrativ behauptet wird; sie hatten etwa eine Woche Vorwarnung. Wesentlich spannender als diese Anekdote finde ich zweierlei. Einerseits, wie realistisch und pragmatisch die westdeutsche Verwaltung das Problem sah. Sie kalkulierten durch, wie viele Besucher kommen würden, stockten die BVG auf (die damals, Beamtenstruktur und vernünftige Finanzierung sei dank, noch leistungsfähig war) und bereiteten zusätzliche Grenzübergänge vor. Es ist staatliches Handeln auf Verwaltungsebene in Bestform. Genau so soll das sein. Angesichts der heutigen Zustände in Berlin geradezu ein Scherz. Andererseits, wie völlig unrealistisch und ahnungslos die Knallchargen im Osten über ihr eigenes Land waren. Die westdeutschen Behörden konnten die Konsequenzen der ostdeutschen policy aus einer beiläufigen Ankündigung deutlich besser abschätzen als die Stäbe der Planwirtschaftler. Wenn so etwas nicht eine absolute Verdammung des DDR-Systems ist, dann weiß ich nicht, was.