Absolute Mehrheit

oder: Jetzt neu! Die Show zum demokratischen Abgesang.
Am Anfang war der Talk. Unaufhörlicher Talk, der aus unerfindlichen Gründen für politisch benannt wurde. Worthülsen und Satzpellen und mal ein bisschen und mal mehr Applaus. Alles ohne viel Gehalt, kalkuliert oberflächlich. Am Anfang der Postdemokratie war der Talk. Nur irgendwann ist auch das zu wenig – und zwar dann, wenn die Allgemeinheit glaubt, Politik entscheide sich auch im Studio, während Stichwortkarten Moderatoren halten. Dann ist es Zeit Politik zu zocken, sie zu trivialisieren, sie zum Quiz zu modellieren. Und die soll am Sonntag Realität werden.
Stefan Raab will in seine monatlich ausgestrahlte Sendung fünf Gäste einladen. Einige Politiker, einen Prominenten und einen Normalbürger. Letzterer vermutlich aus jener Klientel, die üblicherweise bei Schlag den Raab in Frage kommt. Jemand mit angesehenem Beruf, ach so engagiert und ach so eingespannt zwischen Familie, Karriere und unzähligen Hobbies. Sozial Starke eben.

Die TV-Zuschauer sollen per Telefon und SMS über das Gesagte votieren können. Der Redner, der am wenigsten überzeugt, scheidet aber nicht aus, er darf weiterdiskutieren, wird aber von der Möglichkeit ausgeschlossen, am Ende mit 100.000 Euro nach Hause gehen zu dürfen. Die gibt es, wenn in der Finalrunde einem die absolute Mehrheit zufällt. Absolute Mehrheit ist auch der Titel der Sendung. Anhand von dauerhaft eingeblendeten Quoten für jeden Gast, soll abgemessen werden, wie es um ihn steht. So soll gemessen werden, wer unter fünf Prozent fällt, damit ihm das Wort entzogen werden kann. So ähnlich hat Raab das schon beim Vorentscheid zum Eurovision Song Contest gehandhabt.
Blieb schon beim politischen Talk der Inhalt auf der Strecke, spielten sich Debatten nur zwischen vorgefertigten PR-Texten und Ablenkung von tatsächlichen Sujets ab, so ist Raabs politische Spielshow doch nicht weniger, als die Auslieferung von Phrasendrescherei an einen mit SMS und Anrufen um sich werfenden Pöbel, der gelernt hat, in kurzen Prozessen zu denken und zu gefälltmiren.
Diese Belobigung durch das TV-Publikum geschieht fernab jeglicher Regularien. Wenn es findet, dass der schnittige Normalbürger, den Raab geladen hat, eigentlich nicht falsch liegt mit seinem Überfremdungswahn und seiner Islamophobie, dann kann er damit vielleicht Prozente machen. Demagogischer Antihellenismus, beschult durch Springer, hat wahrscheinlich keine schlechten Chancen, billige Affekte und tolle Beißreflexe in Prozentpunkte umzulagern. In der Spielshow gibt es keine Instanzen der Vernunft, keinen Verweis auf das Grundgesetz, keine Opposition, die mit etwas Glück doch Kontrollmechanismus ausufernder Dummheit sein kann. Wenn das Publikum spricht, egal was es spricht, dann nennt sich das wohl Demokratie. Und vielleicht sogar absolute Mehrheit ...
Die Sendung erhebt das Majoritätsprinzip zur unantastbaren Instanz. Bei aller Richtigkeit eines Systems, das sich an den Interessen von Mehrheiten orientiert, so bleibt immer ein Rest, in dem die Mehrheiten keinen Platz finden dürfen. Vor über einem Jahr hat beispielsweise der Papst, als er im Bundestag sprach, genau das kritisiert. Bei der "Würde des Menschen und der Menschheit", so meinte er damals, reiche das Mehrheitsprinzip nicht mehr aus. Bei aller Kritik am König des Katholizismus: Da hat er recht! Das Majoritätsprinzip ist bis dorthin richtig, wo es an die menschliche Substanz geht, wo es menschliches Leid erzeugt und an die Menschenrechte tastet. Ab da hat es keine Geltung mehr zu haben. Beispielsweise können kriegsgegnerische Parteien ihnen verhasste Kriege nicht mit der Aussage stilllegen wollen, wonach die Mehrheit gegen diesen Kriegseinsatz sei. Denn was, wenn es eine Mehrheit dafür gäbe? Ist er dann weniger blutig, ist er dann ethisch rein? Die Würde des Menschen ist auch vom Willen der Mehrheit unantastbar.
Absolute Mehrheit haftet aber radikal an einem seltsamen Mehrheitsprinzip. Theoretisch ist jede politische Meinung dort mehrheitsfähig, wenn Charisma und Sympathiewerte stimmen. Der mündige Wähler, der wenigstens in der Theorie abwägt und vergleicht, wird bei Raab zum aktionistischen Pöbel, der undurchdacht wählen und eilig Tasten tippen soll.
Nachdem der politische Bildungsauftrag nun seit Dekaden vertalkt, im Bottich halbgarer Statements und radebrechender Binsenweisheiten verrührt und verwässert, als Karteikarte in den Händen der Christiansens und Jauchs zerknittert wurde, ist die Umgestaltung dessen, was von diesem Bildungsauftrag blieb, nur postdemokratisch folgerichtig. Das ganze Leben als ein Quiz! Und wir als Bürger sind nur die Kandidaten! Was als großer Wurf Raabs geplant ist, Politik wieder für ein Publikum interessant zu machen, das daran das Interesse verloren hatte, lockt nicht zurück zur Demokratie, sondern bettet in jenes postdemokratische Konzept, in das sich die westlichen Gesellschaften showträchtig zementiert haben - es ist, mit etwas Pech, falls sich dort der Springer-und der Bertelsmann-Mob durchsetzt mit seinem jämmerlichen Weltbild, nicht nur ein Stück postdemokratischer Kultur- und Ritualgeschichte, sondern ein Abbild und ein Motor der Entdemokratisierung.

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