Abschied ins Jetzt

Gregor erklärt mir, er wolle alle Zelte abbrechen, um nach Fernost aufzubrechen und sein Sein zu erforschen. Er wolle wirklich alles hinter sich lassen und „open end“ verreisen. Er habe sich entschieden und sei gekommen, um mir das mitzuteilen.

Wir schauen uns in die Augen. Die Stille tut weh und mein Atem geht flach. Mein Herz klopft und mein Denken rast. Alles rast. Wirklich alles hinter sich lassen? Wie er sich das konkret vorstelle, frage ich ihn ungläubig und zornig. Was er denn mit WIRKLICH ALLES meine, fauche ich ihn an. Na, alles eben, meint er trocken und scheinbar frei von Schuld und Scham. Und was das bedeute, sein Sein zu erforschen, frage ich anklagend. Er wolle sich ganz frei machen für das, was ist und sich dem Studium seines Geistes verschreiben. Er wolle meditieren; mit Haut und Haaren und ohne Kompromisse, Atemzug für Atemzug. Er habe sich das reiflich überlegt, wenngleich er den Entschluss auch spontan gefällt habe, erklärt er widersprüchlich.

Ich bin aufgewühlt und mein innerer Richter wütet: Gregor spinnt! Er hat doch erst vor Kurzem eine neue Stelle angetreten. Wollte er den Job nicht schon lange? Er kann doch nicht einfach kündigen, jetzt, wo er eine neue Sprosse auf der Karriereleiter erklommen hat. Und hat Gregor nicht ein Kind, für das er noch ein paar Jahre Unterhalt zahlen muss? Er kann doch seinen Vaterjob nicht einfach mir nichts, dir nichts an den Nagel hängen. Das Kind braucht ihn doch! Und seine Exfrau, was wird die dazu sagen? Überhaupt: Was werden die Frauen dazu sagen? Potz Heimatland! Und, Gregor wohnt doch in einer schicken Wohnung, mit vielen schicken Möbeln darin. Die habe ich ihm erst vor Kurzem die Treppe hochgeschleppt. Er kann doch nicht einfach seinen ganzen Hausrat auflösen! Dann steht er doch vollends vor dem Nichts. Und, Gregor hat doch eine Freundin. Der wird es bestimmt das Herz brechen. Mann, Gregor, du trägst doch Verantwortung, werfe ich ihm innerlich und mit viel Moralin vor. Ein rechter Mann darf sich doch nicht einfach aus dem Staub machen und aussteigen. Das geht doch nicht. Bestimmt handelt es sich um eine romantische Verklärung, beende ich meine stille Anklage.

An diesem Abend liege ich noch lange wach im Bett. Eine sehnsuchtsvolle Traurigkeit klopft an mein Herz und bittet um Fühlung. Und wenn doch, erlaube ich mir zu fragen? Wenn ICH mir die Freiheit AUCH nähme, alles, aber auch wirklich alles hinter mir zu lassen? Meine Frau, meine Arbeit, mein Zuhause, mein Kind, mein Image? „Beam me up, Scotty!“ – Was hiesse das? Diese Frage öffnet einen Raum in mir und ich beginne zu erahnen, dass es da einen Teil in mir gibt, der Gregor bewundert und beneidet. Und ich merke, wie es mich herausfordert, mir an dieser Stelle Aufmerksamkeit zu schenken und freundlich mit mir zu bleiben. Der zuverlässige Teil von mir, der unter der selbst gewählten (?) Last aus Konventionen, Verträgen und Commitments im Leben zuweilen auch leidet, bittet um Mitgefühl. Wie so viele andere Männer auch, bemühe ich mich, Verantwortung im Leben zu tragen. Dieses Verhalten schenkt mir alles Mögliche: Selbstbild, Führung, Schutz und Anerkennung.

Nicht selten füge ich mir (und anderen) Leid zu, indem ich das, was im Leben gerade ist, oder nicht ist, verurteile. In Momenten von Bewusstheit sehne ich mich dann danach, mich ins Jetzt zu verabschieden. Es braucht ja nicht „open end“ zu sein. Ein Atemzug allein kann verdammt lange sein.


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