"Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht", legte Bert Brecht dereinst in Auswertung der Vorgänge im III. Reich fest - und im Unterschied zu seiner Wahlheimat DDR handeln die Menschen inzwischen nach seiner Maxime. Das durfte jetzt auch Thilo Sarrazin, vor einem Jahr Erfinder "kruder Thesen" (Der Spiegel) zur Einwanderung, bei einem Besuch im hauptstädtischen In-Viertel Kreuzberg erfahren. Hier, wo immer noch zahlreiche Leser seines Buches "Deutschland schafft sich ab" leben, hatte der ehemalige Finanzsenator das einjährige Jubiläum seiner Karriere als Gründer und Galionsfigur der AG Hetzer in der SPD feiern wollen.
Doch bei den Einheimischen biss Sarrazin da auf Granit. Statt Applaus zu spenden, weil Sarrazin den Grundwertekatalog der deutschen Sozialdemokratie um einige spannende Aspekte erweitert hat, und seine Ansichten inzwischen Verteidiger auch im Bundeskabinett finden, schlugen dem Vordenker einer Integration, an der sich die zu Integrierenden auch selbst ein bisschen beteiligen, Wut, Zorn und Ablehnung entgegen. "Die einen zogen sich zurück und wollten gar nichts sagen", berichtet Sarrazin selbst in der "Morgenpost". Anderen hätten "aufgedreht", sie hätten "die Arbeitsleistung der Türken in Deutschland gepriesen" und sie "klagten mich an, Vorurteile zu wecken".
Am Ende stand ein klarer Sieg deutscher Diskussionskultur, wie sie die Sarrazin-Debatte von Anfang an bestimmte. "Versuche zum sachlichen Diskurs blieben weitgehend wirkungslos", konstatiert der vom Schriftsteller Thomas Lehr längst als "bösartiger Wahrheitsverdreher" enttarnte Autor, dessen Leserschaft sich in ihrer Altersstruktur nach Recherchen der SZ "deutlich von der Gesamtbevölkerung" unterscheidet.
Wie auch das Publikum, das Sarrazin in Kreuzberg empfängt. Szenen von bizarrer Authentizität schildert der Ex-Banker, Szenen, die haarscharf an denen von einem bürgerschaftlich-engagierten Lynchmob vorbeischrammen. Deutschland, 2011, international befreite Zonen, verteidigt von einem Heimatschutz, mit dem Sarrazin wohl nicht gerechnet hat, wie seine Erzählungen aus der Kampfzone belegen:
"Beim Aussteigen sah mich ein junges, gut gekleidetes Paar offenbar türkischer Abstammung. Der Mann trug eine Sonnenbrille. Die Frau war sehr schlank und auf etwas anämische Weise intellektuell wirkend. Es entspann sich folgender Dialog, vom Mann mit höchster Lautstärke gebrüllt:
Mann: Das ist ja der Sarrazin. Dieser Mann hat die Menschen beleidigt. Sarrazin raus aus Kreuzberg.
Frau: Sie sind ein Rassist.
Ich glaube, Sie beleidigen mich gerade.
Mann: Sie haben die Leute beleidigt und jetzt laufen Sie hier. Das ist unglaublich. Sarrazin raus aus Kreuzberg!
Frau: Sie haben hier nichts zu suchen.
Eine vernünftige Diskussion war nicht möglich. Wir gingen schließlich Richtung Restaurant. Das junge Paar verfolgte uns, der Mann dabei brüllend „Da kommt Sarrazin, der Rassist“. Als wir das Restaurant betraten, flippte er fast aus vor Empörung. Die Frau rief laut ins Lokal: „Ich als Kreuzbergerin möchte nicht mehr in diesem Laden essen gehen, da er so verpestet ist nach dem Besuch von Sarrazin mit seinen Thesen. Ich werde Freunde anrufen.“ Ein Kellner antwortete auf Türkisch, er habe vom Chef Anweisung, mich zu bedienen, und könne nichts dafür.
Der Mann brüllte ununterbrochen weiter, zog sein iPhone hervor und sprach in den Brüllpausen ins Telefon. Das Gebrüll, das er durch das offene Fenster in das Lokal hinein fortsetzte, zog allmählich einen Menschenauflauf zusammen."
Der Rest vom Integrationstest