Wenn man die Titel der zwei neuen Opern von Johannes Harneit hört, tuen sich vor dem inneren Auge viele mögliche Handlungsräume auf. Abends am Fluss und Hochwasser. Was könnte abends am Fluss nicht alles passieren? Es könnten sich Liebende treffen. Das läge nah bei der Gattung Oper. Es könnten sich verfeindete Brüder treffen. Auch das wäre naheliegend in der Oper. Oder es könnten sich zwei Männer mit den Namen Links und Rechts, ein Greis, eine tote Frau, ein Hund, ein Wunderkind, ein Schatten und eine innere Stimme treffen.
Und wie sieht es mit dem sogenannten Satyrspiel Hochwasser aus? Gibt es da Flutwellen am Meer? Flüsse, die über die Ufer treten? Ein gefährdetes Dorf im Ausnahmezustand? Oder geht es vielleicht um zwei alte Koffer, die im Keller stehen?
Was auch immer man sich von den beiden Uraufführungen von Johannes Harneit erhofft und erwartet - seit dem 6. Februar 2015 sind sie in einer Inszenierung von Peter Konwitschny am Theater Heidelberg zu sehen.
Narrative Wüstenlandschaft
Traditionell folgt an dieser Stelle eine spritzig-witzig-kitzlige Inhaltsangabe der gesehenen Vorstellung. Zu diesem Zweck nehme ich sehr gerne den guten Herrn Kloiber zur Hand oder spicke in der Synopsis, die im Programmheft mitgeliefert wird. Nur hat Herr Kloiber logischerweise zu einer gerade passierten Uraufführung nichts zu sagen und das Heidelberger Programmheft zieht sich mit kryptischen Texten und der Auflistung von Szenentiteln aus der Affäre. Das darf aber niemanden wundern oder gar ärgern. Denn es ist offensichtlich, dass beiden Musiktheaterwerken keine klassische narrative Struktur zugrunde liegt. Es gibt höchstens Handlungsfetzen, Assoziationsketten, ambivalente Figuren und symbolhafte Bildfolgen.
Abends am Fluss
Der erste und längere Teil des Abends beginnt mit der Oper Abends am Fluss im Heidelberger Marguerre-Saal. Dabei könnte man die Worte "Ich war. Ich bin. Ich werde sein." als Motto des Stücks bezeichnen. Das ist leicht daran zu erkennen, dass sie zu Beginn und Schluss auf den geschlossenen Vorhang projiziert werden und von allen Figuren mehrmals ausgerufen werden. Aha, es geht also generell um das Fließen der Zeit, ums Älterwerden, um unterschiedliche Lebensphasen und damit auch (und für Konwitschny offenbar besonders interessant) um unterschiedliche historische Momente. Im Zentrum steht der Greis, der offensichtlich schon einiges durchgemacht hat. Er scheint ein alter Kriegsveteran zu sein, jedenfalls schleppt er die ganze Zeit ein altes Gewehr mit Bajonett mit sich herum, womit er gerne auf alles zielt, was sich bewegt. Bis zum Ende des Stückes wird sich dieser alte Mann nicht von seinen Traumata lösen können. Dann gibt es einen jungen Mann, der sich selbst als Wunderkind bezeichnet. Auch er scheint von seinem Schicksal irgendwie gequält zu sein. Er hat sein Instrument, auf welchem er vermutlich brilliert (hat) zwar dabei, spielt aber nie darauf. Hält er sich selbst an einer mittlerweile schmerzvollen Erinnerung fest mit diesem Souvenir? Auch eine tote Frau, die eigentlich gar nicht so tot aussieht, gehört zum Personal der Oper von Johannes Harneit. Sie erzählt ständig, dass sie irgendwann mit ihrem hübschen Chiffonschal tot im Fluss liegen wird. Hat sie Angst vor dem unweigerlichen Vergehen ihrer Schönheit? Auch ein Hund hat sich abends an den Fluss verirrt. Welche Ängste, Wünsche und verborgene Sehnsüchte dieses Tier hat oder wofür das wauende Geschöpf symbolisch stehen soll, bleibt mir beim besten Willen schleierhaft. Dann gibt es noch zwei Damen die den Schatten und die innere Stimme verkörpern sollen. Wie im richtigen Leben können diese beiden Gestalten zeitweise unterstützend sein - meistens aber sind sie ungebetene Gäste, die so schnell wie möglich von der Bühne geschubst werden. Und dann gibt es noch den Chor, der manchmal ganz griechisch die Handlung kommentiert, dann als rebellischer Untergrund aktiv wird, zuletzt aber doch auch nur eine Gruppe von Konsumenten darstellt. Das alles wird von zwei Herren im Anzug beobachtet und kommentiert. Die sitzen links und rechts vom Geschehen in kleinen Wachhäuschen mit Laptop und Smartphone. Manches finden sie amüsant, manches irritierend, manches lästig. Und manches halten sie für so erinnerungswürdig, dass sie es gleich mit dem Smartphone ablichten und sich gegenseitig whatsappen.
Nein, Peter Konwitschny beantwortet in seiner Inszenierung nicht die Fragen, die man an das Stück stellen kann. Aber er füllt die Deutungsoffenheit mit zahlreichen Assoziationen aus - und die sind für ihn hochpolitisch. Während ganz zu Beginn der Chor auf den drei sich wellenförmig bewegenden Podesten nur vor sich hinwabert (großartig übrigens der Einsatz der vorhandenen technischen Möglichkeiten) ist er schon bald hellwach und beklebt eine rückseitige Mauer mit rebellischen Plakaten. "Selbstständig denken!" "Kein Krieg!" "Liebe!" Der alte Kriegsveteran will von diesem ganzen aufrührerischen Gedankengut aber nichts wissen und entfernt diese gutgemeinten Anregungen sofort wieder. Und die gesellschaftliche Realität scheint auch ganz anders auszusehen. Ein bunt blickendes Kaufhaus lockt mit neuen Angeboten und die Kundschaft strömt stupide und unaufhörlich durch alle offenen Türen. Dass sich später dann auch noch eine riesige DDR-Flagge aus dem Bühnenhimmel senkt, wovon nachher Hammer, Zirkel und Ährenkranz abgenommen werden, ist ein gut gemachter Effekt. Ob ich diese Handlung jetzt besonders provokant oder vielleicht sogar witzig finden soll...?
Regietheater! Und sonst so?
Die Inszenierung von Abends am Fluss von Peter Konwitschny ist genau das, was man sich unter Regietheater vorstellt. Jede Sekunde dieser Vorstellung ist mit seinen Assoziationen gefüllt, fast schon übervoll davon. Spürbar ist auf jeden Fall die Dichte und eine gewisse Haltung. Nur wie genau diese Haltung nun ist, vermag ich leider nicht zu sagen. Und vielleicht liegt es einfach daran, dass ich eben nicht der Generation entstamme, die beim Wort "Rosa" sofort an Rosa Luxemburg denkt. Meine Generation kann sich den Wissenshorizont von einem Peter Konwitschny vielleicht aneignen - er wird damit aber nicht zu unserem Erlebnisfundus. Durch seine sehr konkreten Anspielungen beschränkt sich der Pool der angesprochenen Zuschauer immens. Und die anderen armen Unwissenden können sich zwar an hervorragender Regiearbeit erfreuen, aber inhaltlich nicht in das Universum der Inszenierung eintauchen. Schade.
Hochwasser
Ein Satyrspiel war ursprünglich eine Gattung des antiken Dramas - ein heiteres Nachspiel, das nach Tragödien gespielt wurde, damit man nicht total herzensschwer und miesgelaunt nach Hause gehen musste. Und als solches wird auch die kurze Oper Hochwasser dem längeren und schwierigeren Werk Abends am Fluss hintan gestellt. Dieses lustige Stück führt den Heidelberger Zuschauer nun in einen anderen Raum mit völlig anderem Konzept. Auf dem hochgefahrenen Orchestergraben findet das kleine Orchester mitsamt Dirigent Platz - das klingt erstmal nicht besonders exotisch. Allerdings sitzen die Zuschauer auf beiden Seiten der Musiker: im normalen Zuschauerraum und auf der eigentlichen Bühne. Das begeistert die neugierigen Theaterbesucher, die endlich in einen Schnürboden starren, das merkwürdige schwarz gekleidete technische Personal bestaunen und sich wundern können, dass der Saal ja so viel kleiner aussieht als gedacht. Und so reizvoll diese Aufstellung ist, welche die beiden Sänger auf gegenüberliegenden Seiten der Säle - bis zum ersten gesungenen Ton unerkannt - das Stück beginnen lässt und diese sich die ganze Oper hindurch überall frei bewegen können - sie birgt auch erhebliche Probleme. Zwischen Orchester und Saal befindet sich eine kleine Spielfläche, auf der sich (vermutlich) zwei Koffer befinden, in denen sich (vermutlich) Gegenstände befinden, womit (vermutlich) gewisse Handlungen vorgenommen werden. All dies ist allerdings für alle Zuschauer, die das (Un-)Glück haben, auf der Bühne zu sitzen, praktisch unsichtbar, da von der musikalischen Abteilung verdeckt. Und so richtig klar wird einem auch nicht, wo jetzt eigentlich der Ausgang des Kellers sein soll, aus dem die beiden alten Koffer ausbrechen wollen. Auf wievielen Erzählebenen sich die schöne Frau befindet, die erst im Nachthemd virtuos Viola spielt, dann (vermutlich) aus einem der Koffer ein schwarzes Abendkleid holt und es anzieht, um danach im Orchester Platz zu nehmen, ist ebenfalls unklar. Ganz davon abgesehen, dass es (bei aller hohen stimmlichen Qualität der beiden Sänger) auf Dauer einfach unangenehm ist, wenn einem einer aus einem Meter Entfernung ins Ohr singt.
Das alles kann man eine Weile lang spannend und charmant finden, aber eine Geschichte wird auch hier nicht erzählt. Und das, obwohl es hier sogar eine gibt! Die zwei Koffer sehnen sich danach endlich wieder eine Reise zu unternehmen. Als die schöne Frau kommt, hoffen sie auf eine Änderung ihrer Lage, werden aber enttäuscht. Also bleibt die einzige Möglichkeit, vom Hochwasser aus dem Keller gespült zu werden. Das Wasser kommt, hat aber nicht den gewünschten Effekt. Stattdessen verfault der arme schwere Koffer durch die Feuchtigkeit. So weit also die narrative Struktur. Als dann aber irgendwann auch noch der hintere eiserne Vorhang beiseite geschoben wurde, wohinter ein einsamer Pianist eine traurige Variation von "Stille Nacht, heilige Nacht" spielte, war ich vom vielen vergeblichen Nachdenken sehr sehr müde.
Kritik auf Die deutsche Bühne vom 7. Februar 2015 Kritik in der Frankfurter Rundschau vom 9. Februar 2015 Kritik im Deutschlandfunk vom 7. Februar 2015 Kritik in concerti Interview mit Peter Konwitschny und Johannes Harneit in der Rhein-Neckar-Zeitung vom 6. Februar 2015 Vorbericht auf SWR2 Kultur Regional vom 5. Februar 2015 Kritik im Online Musik Magazin Kritik im Opernfreund Abends am Fluss / Hochwasser. Zwei Opern von Johannes Harneit (UA 2015 Heidelberg)Theater Heidelberg
Musikalische Leitung: Johannes Harneit
Regie: Peter Konwitschny
Bühne und Kostüme: Helmut Brade
Dramaturgie: Bettina Bartz, Heribert Germeshausen, Julia Hochstenbach
Besuchte Vorstellung: 3. März 2015