Unsere Wiener “Kultur-Korrespondentin” utecita war auf dem diesjährigen Sónar Festival und hat für uns eine Kritik im Reportagen-Stil verfasst. Über musikalischen Einheitsbrei, die orthopädischen Vorzüge von Kunstrasen und die aktuelle Verfassung der internationalen Bassmusic-Szene…
Barcelona ist immer eine Reise wert und das Sónar Festival umso mehr. So bin ich spontan nach Spanien gereist, um das wohl spannendste Festival für elektronische Musik Europas zu besuchen. Auf neun Bühnen konnte man von 16.-19. Juni Stehvermögen beweisen, und viele Überraschungen, aber auch einige Enttäuschungen erleben. Von HipHop über Soca, Dancehall, Jungle, Grime, Halfstep, DnB, Dubstep, bis zu Electronica, Minimal, Tech House und Techno wurde so ziemlich jeder Geschmack bedient. Auch der eine oder andere audiovisuelle Leckerbissen war dabei – das Sónar beschränkt sich nicht nur auf Musik, es gibt auch Multimediainstallationen und Filmscreenings: ein ziemlich dichtes Programm.
Topmotiviert und mit gutem Schuhwerk ausgestattet, erkundete ich am Donnerstag um 14 Uhr das Gelände rund ums „Museo de Arte Contemporaneo“. Als etwas eigen kann man die Organisation während des Festivals bezeichnen. So muss man jeden Tag aufs Neue anstehen, um das jeweilige Tagesbändchen zu bekommen, und sollte das Ticket auch gut aufbewahren, da man es auch für das Abendprogramm benötigt. Ich kenne das MACBA nur als ordinäre Ausstellungsbesucherin, und war gleich mal positiv überrascht ob der familiären Atmosphäre und der durchdachten Ausstattung – vor allem der Kunstrasen im Bereich vor den Bühnen stellte sich im Laufe des Festivals als sehr positives Feature heraus, nimmt er doch ein wenig den Druck von den Bandscheiben und lädt zwischendurch immer wieder zum kollektiven Picknick ein.
- Foto: utecita
Bemerkenswert ist vor allem das Setting der Hauptbühne im Hof, inmitten der früher etwas zwielichtigen Gegend Raval, und die Tatsache, dass der Ausstellungsbetrieb auch während des Festivals nicht eingestellt wurde. Ist einem also mal nach Ruhe zumute, dreht man einfach eine Runde in den Hallen des Museums, auch ein lohnendes Erlebnis.
Der erste Eindruck war also schon mal äußerst angenehm, und Tag 1 hielt bereits zu früher Stunde die erste Überraschung parat: der Kanadier Poirier, supportet von Boogat, bewies bereits am Nachmittag, dass sich Dancehall, Reggaeton und Soca ausgezeichnet mit tiefen Basslines und Jungle vertragen, und es sich auch sehr gut tanzen lässt, wenn die Sonne noch hoch am Himmel steht. Kidkanevil stand dem in Nichts nach, und sorgte mit seinem „distinctive hiphop“ – downbeat meats old school dnb – für Vorfreude auf den ähnlich distinktiven Sound von Eskmo: zu einer Mischung aus Downbeat, Funk und Electronica wurden Zeitungen zerrissen, Dosen gequetscht und Chips-Packungen geraschelt, und heraus kam ein wunderbarer Abschluss des lohnenden ersten Tages.
Das Tempo, das am ersten Tag rausgenommen wurde, packte man an Tag 2 doppelt mit rein, was wohl die Herzen fortschreitend alkoholisierter Besucher höher schlagen ließ, aber auch dazu führte, dass sich alle 4 Floors gegen Morgen zu einem Einheitsbrei aus 160 bpm im 4/4-Takt vermengten. Ausnahmen bestätigten aber auch hier die Regel: Aphex Twin zum Beispiel, ein Gesamtkunstwerk, bei dem die Entscheidung schwer fiel, sich dem Sound hinzugeben oder den Visuals zu folgen. Ebenfalls herausragend an diesem Abend waren Trentemøller und Dizzee Rascal , der mir mit einem wunderbaren Old School Grime -Set wieder ein Lächeln ins Gesicht zauberte, während Katy B und Ms Dynamite allen voran mit ihren dünnen Stimmchen enttäuschten, an der Technik ist’s am Sónar wohl eher nicht gelegen. Die größte Enttäuschung für mich lieferte an diesem Abend aber Toddla T: The Boom DJ from the Steel City Sheffield ist bekannt für seine Mash-ups quer durch die Musikgeschichte. In dieser Nacht hat er sich leider perfekt in den undifferenzierten Vier-Viertel-Brei des samstagmorgendlichen Sónar eingegliedert.
- Foto: utecita
Nach einem etwas ernüchterndem Freitag verbrachte ich den Samstag auf dem Sonnendeck, um mich rechtzeitig zu Apparat wieder in den Hallen des Festivals einzufinden, leider etwas zu spät und so gab’s Blockabfertigung wegen Überfüllung im Untergeschoß des Centro Cultural. Das Warten hat sich bezahlt gemacht, bekam ich düsteren Industrial-Techno-Electronica, live und zum größten Teil analog performed, als Belohnung. Die perfekte Einstimmung für die Nachtsause lieferten allerdings Shangaan Electro, die elektronische Interpretation der traditionellen Rhythmen der Tsonga Shangaan People, straight outta Soweto: geschätzte 500 kg Körpermasse, verteilt auf 5 Personen, wurden auf der Bühne geschwungen, da bekam man richtig Lust, mal nach Südafrika zu reisen und in die dortige Szene einzutauchen.
Eine Entdeckung an diesem Abend aber waren Africa Hitech, die eklektischen Sound von Dub, Dnb, Dancehall bis zu Grime und Electro mit einer wunderbar souligen Stimme präsentierten. Bei Buraka Som Sistema ging’s dann richtig rund, traditionelle angolanische Rhythmen, unterlegt von Dancehall Basslines, hat mir eine Stunde Ausdauersport beschert und für glückliche Gesichter gesorgt, als 50 Mädchen auf die Bühne zum kollektiven Booty shaken bestellt wurden.
Im Gegensatz zu Freitag konnte ich an diesem Samstag keinen Anflug von Müdigkeit verzeichnen und meine Konzentration ließ auch bei Chris Cunningham, der sich ehemals für die Videos von Aphex Twin verantwortlich zeichnete, nicht nach. Der musikalische Einfluss der vormaligen Auftraggeber ist zwar mehr als manifest, Cunningham ist aber – vor allem – sehenswert, wenn auch seine Visuals – live geschnitten, man bemerke – nichts für schwache Nerven sind: explizit sexuelle Darstellungen wechseln sich mit Sequenzen ab, deren Brutalität zwar sehr subtil transportiert wird, deshalb aber nicht minder prägend ist. Sehr gefreut hab ich mich auf The Gaslamp Killer, live eine absolute Ausnahmeerscheinung, der sich an ziemlich jedem Genre von psychedelischen 60er- Jahre -Klängen bis hin zu Mark Pritchard aka Harmonic 313 bedient und dabei Sound produziert, der immer wieder neue Klangerlebnisse garantiert. Den perfekten Abschluss lieferten Magnetic Man, das Projekt von Skream, Artwork und Benga, dieses Mal mit Sergeant Pokes im Gepäck und wider Erwarten beinahe düsteren Dubstep mit exakt getimten Basslines lieferten – ich war glücklich und kann nur sagen: gracias sónar, te veo en 2012!
Text und Fotos: utecita
Das volle Lineup gibt es hier:
Buraka Som Sistema