96. Vermessung (aber bitte nicht zählen)

So wohnt man lesend jener lyrischen Vermessung der Welt bei, die Jan Wagner seit seinem ersten Gedichtband Probebohrung im Himmel aus dem Jahr 2001 beharrlich und mit unverkennbarem Ton vorantreibt: so leichtfüßig wie handwerklich präzise und mit sicherem Gespür für kleine, wirkungsvolle Verschiebungen wird vermeintlich Vertrautes flink ins Unheimliche gewendet, wird stets die Kleinschreibung gepflegt, wodurch alle Worte gleich behandelt und zuweilen mehrdeutig werden. Assoziationsräume werden eröffnet, Kontexte aufgerufen. In „der brennende hain“ über einen Waldbrand im Abschnitt „Süden“ heißt es „nach einer weile/krähte ein hahn. ein hahn. ein hahn“ und man darf hier natürlich auch an Petrus’ Verrat („Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnet haben!“) denken.

In Australien erweist sich Wagner zudem einmal mehr als versierter Spieler auf der Klaviatur des lyrischen Formenkanons. Der Griff zu tradierten Gedichtbauplänen erfolgt mal streng nach Ordnungsschema, etwa wenn sich unter der Überschrift „von den ölbäumen“ 15 Haiku aneinander reihen, mal spielerisch in freier Variation die Baupläne unterlaufend.

Häufig sind unreine Reime, in denen der Bezug zwischen zwei Worten klanglich hergestellt und zugleich aufgebrochen wird. Dadurch gerinnen die Formen nicht zur Pose, wirken tatsächlich als jene „Korsette, in denen man paradoxerweise freier atmen kann“, als die Wagner sie mehrfach charakterisiert hat. Und niemand braucht hier mit der kleinen Versschule gewappnet Silben und Zeilen zu zählen*. Denn dass die Gedichtkörper ein Rückgrat haben, das die Worte stützt und trägt, dass hier jemand an der Sprache präzise gefeilt und poliert, seine Anordnungen genau geprüft hat, wird man ohnehin zur Kenntnis nehmen. / Beate Tröger, Freitag 03

Australien Jan Wagner Gedichte, Berlin Verlag, Berlin 2010, 102 Seiten, 18 €

*) Mit Verlaub, „niemand braucht hier zu zählen“? Der Dichter doch mindestens schon. Die Haikus sind korrekte 17silber, nach westlichem Muster zu 5/7/5 angeordnet. Auch gibt es auffallend viele Verse mit 11 oder bei betontem Ende 10 Silben: fünfhebige Jamben. Manchmal mit völlig korrekter Anaklasis (hoffentlich stehts in der kleinen Versschule). Außerdem enthält der Band, wenn ich jetzt keinen übersehe, neben vielem anderen Abgezählten 3 sapphische Oden: abendlied, lago di como / am aalfang / hiddensee im dezember. Und ob er da gezählt hat. Leser und Kritiker könnten das auch, statt zu labern. Eine „künftige Literaturwissenschaft“, die „statt Raisonnement Analysen versucht“, erhoffte Rainer Kirsch 1976. Ist wohl noch nicht so weit.

Zu den „gezählten Versen“ bzw. Silben sehe man auch zum Beispiel die Huchelpreisträgerin Marion Poschmann, da lassen sich noch Entdeckungen machen.

Das Zitat von Rainer Kirsch aus seinem Buch „Ordnung im Spiegel. Essays Notizen Gespräche“. Leipzig 1985 S. 267



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