Die Wiederbegegnung mit dem ebenso brillanten wie witzigen Tim Turnbull, dessen Gedichte, in Auswahl, 2010 unter dem Titel Es lebt als roughbook #1 erschienen sind, ist ein Grund mehr, die Mütze freudig zu begrüßen. Hier gibt’s sieben neue Gedichte, übersetzt von Dagmara Kraus, die zuletzt mit einem eigenen Gedichtband, kummerang, hervorgetreten ist und auch als kongeniale Übersetzerin von Miron Białoszewski ihre Visitenkarte abgegeben hat. Wie sie hier – um nur zwei klitzekleine Beispiele zu nennen – “Fat Willy’s House of Mirth” mit “Fettis Freuhaus” und, kess, “The boss / packs up her bags” mit “Die Bössin packt ihr Zeug / zusammen” übersetzt, ist ebenfalls ganz wunderbar. Turnbull kann sich nicht beklagen über seine deutsche Stimme. Die Zitate sind dem Gedicht “On Comedy” / “Komödie” entnommen, einem der stärksten. Hervorzuheben auch, und passend zum jüngst (19.9.) gefeierten 25. Geburtstag des Smiley-Emoticons, das Gedicht “Smile”: “I question your intelligence and taste / but add, to show that it was done in jest, / a little animated smiley face.”
Turnbulls Gedichte schreiben klassische Formen fort und machen sie zugleich vergessen. Ganz anders Simone Kornappel. Ihre Gedichte “cellophon”, “pardon et al” und “muxmäuschen” können, bezogen auf die technoid anmutende graphische Darstellung, als Computertexte bezeichnet werden. Mit den Herzen und Sanduhren der barocken Figurendichtung haben sie nichts gemein. Wollte man überhaupt nach phänotypischen Ahnen in der Vergangenheit suchen – man würde eher bei M. C. Escher oder in der Op-Art fündig werden.
“cellophon”, ebenso wie “pardon et al” tetraederförmig angeordnet, ‘beschreibt’ eine Konzertsituation.
“flügel / türen. [...] dahinter / staut sich anstand. beine. artig überschlagen. / dürers handapparat d. h. applaus[.]“, überblendet Kornappel Dürers Betende Hände mit den applaudierenden Händen des Konzertpublikums – ein satirischer Kommentar zur Musikfrömmigkeit des gebildeten Bürgertums (oder was davon übrigblieb, von der Musikfrömmigkeit, vom Bürgertum, von der Bildung). Die “flügel / türen” werden nicht nur deswegen auf diese Weise aufgeklappt, um sie mit den Mitteln des Gedichts und seiner Typographie ‘abzubilden’, sondern das Wort oder der Wortbestandteil “flügel” zitiert auch das bürgerliche Instrument par excellence, das Klavier. Vielleicht meint “pneumatik der gesten” das Heben der Arme eines Pianisten? / Hotlist online
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