92. Mit Schlaffer wär das nicht passiert

V0r 250 Jahren ist etwas gründlich schief gegangen. Klopstock war der falsche Prophet (oder statt seiner Oden hätten sie den Messias lesen sollen). Heute liest man beides nicht mehr, aber die verhängnisvolle Wirkung besteht fort. Mit fachkundiger Leitung kann man vielleicht den Irrweg der deutschen Poesie korrigieren, entnehme ich einem Zeitungsbericht:

Die deutschen Stürmer und Dränger des 18. Jahrhunderts schrieben Gedichte wie im Rausch. Der Idee vom Ausdruck des ungebändigten Selbst lag jedoch ein liebenswürdiger Irrtum zugrunde: Klopstock, Goethe und Konsorten, die einen beispiellosen Kult der Authentizität veranstalteten, vertaten sich im Studium der ältesten Verskunst.

Schon in der Renaissance beriefen sich Lyriker, die auf die strenge Bindung der Verse durch Rhythmus und Reim verzichteten, auf das Vorbild der Antike. Sie konnten in den Gesängen Pindars, aber auch in den Psalmen der Bibel kein Metrum und keinen Gleichklang der Endsilben entdecken. Erst durch dieses Verhängnis, so der Stuttgarter Literaturwissenschafter Heinz Schlaffer, kamen die dichtenden Feuerköpfe auf die Idee, man könne zügellos drauflosdichten. Dass einer Oden-Strophe des Pindar ein kompliziertes Wechselspiel aus Hebungen und Senkungen zugrunde liegt, war den neuen Hohepriestern des Genie-Kults schlichtweg entgangen.

Schlaffers neuer, formidabler Lang-Essay Geistersprache – Zweck und Mittel der Lyrik (verlegt bei Hanser in München) wird von nun an diejenigen begleiten, die sich, entgegen allen zeitgeistigen Usancen, mit der Lektüre so “unnützer” Sprachgebilde wie Gedichten herumplagen. In ältester Vorzeit waren die Vorläufer unserer heutigen Gedichte sprachmagische Werkzeuge. Ihrer bediente man sich einzelweise oder im Chor, um sich Götter und Gegenstände gefügig zu machen. Gedichte waren Gesang, und zu diesen beiden gesellte sich der Tanz. Erst durch das Nachstellen ritueller Schrittfolgen wird die Entstehung der “Versfüße”, der Hebungen und Senkungen im Versfluss, plausibel und deutlich.

Schlaffers Beharren auf die ehemals kultische oder liturgische Funktion der Poesie ist wohltuend. Zugleich streicht er das Dilemma aller heutigen dichterischen Bestrebungen genüsslich hervor. Wer das Handwerk der Verskunst aus dem Zusammenhang der kultischen Sinngebung herausreißt, wird mit dem Geschenk der Freiheit belohnt. Der heutige Poet büßt aber auch die Funktionslosigkeit seines Tuns. / Ronald Pohl, Der Standard



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