Ungeachtet der Proteste, die Äußerungen von Adonis zur Lage in Syrien in der arabischen Welt verursacht hatten, erhielt der 1930 in der Nähe der Küstenstadt Latakia geborene Dichter am vergangenen Sonntag den Frankfurter Goethe-Preis – einer von vielen arabischen Literaten, die mit dem demokratischen Aufbruch in ihrer Weltregion ausgezeichnet werden. Neben dem Goethe-Preis für Adonis ist im September der Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis in Osnabrück für Tahar Ben Jelloun zu verzeichnen, im Oktober der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für Boualem Sansal und im November der Hermann-Kesten-Preis für den ägyptischen Verleger Mohammed Hashim. Fehlt nur noch der Literaturnobelpreis. Auch dafür ist Adonis ein Kandidat.
Als Dichter und Vorreiter der literarischen Moderne in der arabischen Welt hätte er ihn zweifellos verdient – ist aber das Jahr 2011 der beste Zeitpunkt dafür? …
Der entscheidende Unterschied zwischen Adonis und den säkular und emanzipatorisch orientierten Kräften in Nordafrika ist nicht inhaltlicher Natur, sondern beruht auf einem irritierenden Timing. Adonis äußert seine Vorbehalte gegen die Protestierenden, während diese erschossen und eingeschüchtert werden, bevor sie ihre Ansichten überhaupt richtig äußern können. Und es mutet eigenartig an, die Verbesserung der Verhältnisse nicht mit der Abschaffung des ersten und offensichtlichsten Übels beginnen zu wollen, nämlich der Diktatur, sondern sie an Bedingungen zu knüpfen und den Unterdrückten zunächst einmal die rechte, und das heißt in diesem Fall die westlich-laizistische Gesinnung, vorschreiben zu wollen.
Diese herablassende Skepsis gegenüber den Revolutionen ist aber nicht nur die von Adonis und anderen abgehobenen, sich in Maximalforderungen gefallenden Intellektuellen, sondern sie ist auch in Europa weit verbreitet, ja sie bildete bis weit in den arabischen Frühling hinein die Grundlage der offiziellen westlichen Politik. / Stefan Weidner, Süddeutsche Zeitung 29.8.