63. Keine Seelentröster / für empfindsame Buchhalter

Nein, seine beinahe ohnmächtige Wut galt vielmehr der gescheiterten ersten Ausgabe seiner Gesammelten Werke im Züricher Ammann-Verlag. Als die Verantwortlichen Ende der 1980er Jahre beschlossen, diese Edition wieder einzustellen – zwischen 1983 und 1987 waren gerade einmal zwei Bände erschienen (4) – blieben damit vor allem auch Sahls „sämtliche Gedichte“ auf der Strecke, die den Auftakt, den Band 1, dieser Ausgabe hatten bilden sollen und deren Erscheinen unter dem Titel Der Mann im Stein bereits angekündigt war.

Auf diesem Hintergrund nehmen sich die jetzt erschienenen, von Sahls Stiefsohn Nils Kern und dem Lektor des Luchterhand-Verlags, Klaus Siblewski, herausgegebenen Gedichte wie das postume Einlösen eines Versprechens aus, denn „mit dieser Ausgabe“ werde, wie Verlag und Herausgeber gleichermaßen stolz verkünden, „endlich“ Sahls „lyrisches Werk als Ganzes zugänglich gemacht“ (5). Ob Hans Sahl freilich vorbehaltlos glücklich mit dieser Sammlung geworden wäre, darf bezweifelt werden, denn weder enthält dieser Band auch nur annähernd vollständig seine hinterlassenen Gedichte, noch ist die Sammlung – was die gelegentliche Rede von einer bloßen „Lese-Ausgabe“ (S. 307) nahelegen könnte – ein repräsentativer Querschnitt durch Sahls dichterisches Schaffen.

In den editorischen Bemerkungen zur Ausgabe heißt es, die Herausgeber hätten es als eines ihrer Hauptanliegen betrachtet, das Publikum einerseits mit den zahllosen Inedita unter Sahls Gedichten bekannt zu machen und andererseits jene lyrischen Werke wieder hervorzukramen, die zwar „als einzelne“ bereits „veröffentlicht“, jedoch „zum großen Teil“ längst „wieder“ der „Vergessenheit“ anheimgefallen seien (S. 307). Da in diesem Zusammenhang zugleich das Wort von der „Vollständigkeit“ bemüht wird, fragt man sich, warum gleich eine Vielzahl der publizierten Gedichte Sahls in dieser Sammlung fehlt. Beispielsweise jene, die er zwischen 1942 und 1988 im New Yorker „Aufbau“ (Worte für eine Ausstellung (6), Verse, Die Bäume, Vietnamesisches WiegenliedHölderlins TurmPaul Falkenberg), im Berliner „Tagesspiegel“ (Haus im Walde) und im Zürcher „Tages-Anzeiger“ (Zürich 1937) veröffentlichte; aber auch solche, die sich in unterschiedlichen Publikationen seiner Werke gewissermaßen ,versteckenʽ, etwa in seinem Briefwechsel mit George Grosz (Horch, der Boss geht durch das Haus, Zwei Widmungen für George Grosz) (7). Auch der Nachlaß birgt weit mehr als die hier versammelten „unveröffentlichte[n] Gedichte“ (S. 239-296), bei denen es sich, nebenbei bemerkt, beileibe nicht immer um bislang unpublizierte Werke handelt (8). An die Deutschen, Nekrolog, Die Ballade vom Lake Iroquios, Für W. R., Silone, Die Neutralen, Mariechen, Ein Herr aus Danzig: das sind nur einige wenige, wahllos herausgegriffene Titel, die man in diesem Band vergebens sucht. …

Nicht von ungefähr heißt es gleich zum Auftakt dieser frühesten seiner Gedichtanthologien, in der Widmung An den Leser: „Das meiste, was hier steht ist Material, / […] // Es ist so flüchtig, wie wir selbst es wurden, / […] // Wer heute lebt, fragt nicht, was morgen ist.“ (S. 203) Und diese Auffassung durchzieht Sahls lyrisches Werk wie ein roter Faden: „Ein Mann, den manche für weise / hielten, erklärte, nach Auschwitz / wäre kein Gedicht mehr möglich. / Der weise Mann scheint / keine hohe Meinung / von Gedichten gehabt zu haben – / als wären es Seelentröster / für empfindsame Buchhalter / oder bemalte Butzenscheiben, / durch die man die Welt sieht. / Wir glauben, daß Gedichte / überhaupt erst jetzt wieder möglich / geworden sind, insofern nämlich als / nur im Gedicht sich sagen läßt, / was sonst / jeder Beschreibung spottet.“ (S. 11) …

Was bleibt? Es bleibt der Dichter Hans Sahl, der zwar nicht in dem Sinne zu den Großen der Dichtkunst zu rechnen ist, daß man seinen Namen in einem Atemzug mit denen eines Gottfried Benn, Bertolt Brecht oder einer Else Lasker-Schüler nennen würde, der aber nichtsdestotrotz einige sehr schöne, ja sogar großartige lyrische Werke hinterlassen hat, wie etwa dieses:

„Ich weiß, daß ich bald sterben werde,
zu lange schon war ich auf dieser Welt zu Gast,
auf diesem Flecken, diesem Stückchen Erde,
das du, mein Gott, wenn es dich gibt, mir gabst.

Was bleibt von all dem, das ich tat und lebte?
Nur eine Kleinigkeit: Ein Mensch fand statt.
Ein Mensch, der weiß, daß er nun sterben werde
und müde ist und sagt: Ich hab es satt.

Fast schon so alt wie dieses, mein Jahrhundert
der Flammenmeere, Mörder, Folterungen,
der Volksverderber und der Volksverächter,
geliebt, gehaßt, gefürchtet und bewundert.

So nehmt, o Brüder, eine Hand voll Erde
und gebt sie mir zum Abschied auf den Weg.
Ich weiß, daß ich bald sterben werde.
Ein Gast nimmt leise seinen Hut und geht.“ (S. 237)

Allein schon um solcher Verse willen hätte er eine liebevoller edierte Ausgabe seiner Gedichte verdient. / Momme Brodersen, Fixpoetry

HANS SAHL
Die Gedichte
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 336 Seiten,11,8 x 18,7 cm
ISBN: 978-3-630-87288-9
€ 19,95 [D] | € 20,60 [A] | CHF 28,50* (* empf. VK-Preis) 
Verlag: Luchterhand Literaturverlag



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