»Können Sie beschreiben, was Ihre Zwillingsschwester am Tag ihres Verschwindens getragen hat?« Der Polizeibeamte holte ein schwarzes Notizbuch aus der Innentasche seines Mantels.
»Hier.« Ich zeigte ihm das Foto von Lydia und mir, das Hannes von uns am Silvesterabend gemacht hatte. Er runzelte die Stirn.
»Was ist?« Mein Magen krampfte sich zusammen.
»Ich wundere mich über die Schuhe«, meinte er gedehnt und hielt mir das Bild hin. »Haben Sie die immer so getragen?« Ich rang mir ein dürftiges Lächeln ab und schüttelte den Kopf. »Nein.«
Lydia war stets ein verrücktes Huhn gewesen. Sie machte sich kein Stück aus Stil und Konventionen. An ihrem siebzehnten Geburtstag hatte sie sich einen weinenden Totenkopf auf den linken Unterschenkel tätowieren lassen. Als Vater es herausgefunden hatte, konnte sie tagelang nicht sitzen.
»Wir hatte nicht viel Kontakt in den letzten Jahren«, sagte ich und nahm das Bild wieder an mich. Hannes stellte sich hinter mich und legte seine warme Hand auf meine Schulter. »Sie stand am Silvesterabend plötzlich vor unserer Tür«, erklärte er dem Polizisten. Ich lächelte bei dem Gedanken daran.
»Freust du dich mich zu sehen, Schwesterherz?«, hatte sie gefragt, als ich mit offenem Mund die Haustür öffnete und nicht wusste, ob ich lachen oder weinen sollte. Sie ist mir um den Hals gefallen und hatte Hannes eine Flasche Champagner in die Hand gedrückt. »Nun schau nicht so verkniffen, den Schampus habe ich nicht geklaut!« Sie hatte mir zugezwinkert, die lilafarbenen Docs ausgezogen und neben meine Weinroten gestellt. »Schicke Schuhe, mein Mädchen«, hatte sie grinsend gesagt. Die Vorliebe für englische Boots war in den letzten Jahren unsere einzige Gemeinsamkeit gewesen.
»Ist sonst noch etwas vorgefallen?«, wollte der Polizist wissen und holte mich mit seiner Frage in die Realität zurück. Ich schüttelte den Kopf. Eigentlich hätte ich es mir klar sein müssen. Lydia hielt sich nie lange an einem Ort auf.
»Sie hat ihr Handy, ihre Papiere und ihre Klamotten hier gelassen«, entgegnete Hannes. »Nichts deutete darauf hin, dass sie nicht mehr zurückkommt.« Tränen schossen mir in die Augen.
»Die Schuhe«, flüsterte ich.
»Wie bitte?«, fragte der Polizeibeamte.
»Nachdem wir die Flasche Champagner ausgetrunken hatten, zogen wir um die Häuser. Es war wie früher. Irgendwo unterwegs zog Lydia ihren linken Schuh aus und hielt ihn mir hin. Ich sollte ihr meinen dafür geben.« Die Zeit schien für einen Moment stillzustehen.
»Als sie am Morgen mit einem meiner Schuhe aus der Tür ging, wusste sie genau, dass sie nicht mehr zurückkommen würde«, flüsterte ich.
(c) Sandra-Maria Erdmann, 2014
Einsortiert unter:52 Bilder Tagged: Bilder, Geschichten