24. Meine Anthologie: Dialog zwischen zwei Vögeln

Wie ticken chinesische Gedichte? Der Spiegel berichtete vor einiger Zeit über ein Gedicht von Mao Tse-tung, in dem der große vorsitzende Dichter über den „Revisionisten“ Nikita Chrustschow spottete (Chrustschow war der Parteichef, der in einigen vorsichtigen Riesenschritten begann, das Erbe Stalins abzutragen und dafür 1964 von dem Hardliner Breschnew abgelöst wurde.) Die Besonderheit des Gedichts für das chinesische Publikum bestand darin, daß der Diktator, der Tabubrecher nicht zimperlich behandelte, ein mächtiges Tabu brach, indem er das Wort „Furz“ verwendete. Ein ungeheurer Tabubruch! Da es von Mao war, mußten es die Zeitungen auf der ersten Seite drucken und die Volkschöre im ganzen Land singen. Aber wie erklärt man dem Volk den unerklärten Tabubruch? Wie singt man einen Furz? Die Untertanen ließen sich etwas einfallen. Mao spottete über sein devotes Volk, mutmaßen manche. 

Wie dem auch sei, der Spiegel brachte ein Faksimile der Handschrift Maos, und ich bat den chinesischen Studenten Jin Ling (heute in Frankfurt/ Main) um eine Wort-für-Wort-Übersetzung. Hier seine Interlinearfassung, oben fast wörtlich, unten sinngemäß. Im Anschluß gebe ich die sinngemäße Übersetzung noch einmal im Zusammenhang.

Dem chinesischen Gedicht liegt nicht nur eine völlig andere Grammatik zugrunde, sondern auch eine andere Ästhetik und Hermeneutik als die im Westen seit Baudelaire verbreitete. Das Gedicht hat eine eindeutig von der Form abzuhebende Botschaft, hier und nicht da kann man klar benennen, was wofür steht. Der stolze am Himmel schwebende Vogel steht für, und ist, Mao und sein „Volks“-China und der häßliche Spatz (bekanntlich gab es in den späten 50er, frühen 60er Jahren in Maos China eine Kampagne, bei der die lästigen Spatzen durch ohrenbetäubenden Lärm zu Tode erschreckt wurden. Haben sie sich eigentlich davon erholt?) für den Stalins Erbe verratenden Revisionisten Chrustschow. Das Wort Gulaschkommunismus kam damals in Mode, es trifft auch die Linie des Moskauer Parteichefs. „Bei uns gibt es sogar Rindfleisch“, prahlt der Russe. „Hör auf zu furzen“, bescheidet ihn  der Chinese. (Sein Volk wagt nicht zu denken, daß Rindfleisch besser schmeckt als eine Kulturrevolution, die Mao damals vorbereitete). Die Hölle ging los.

念奴娇·鸟儿问答 niàn nú jiāo: niǎo er wèn dá (niàn nú jiāo: Dialog zwischen zwei Vögeln)

Kun Peng ausbreitet Flügel, neun zehntausend Meter , schraubt Fú yáo Yáng jiǎo (Name eines Wirbelwinds)

kūn péng zhǎn chì jǐu wàn lǐ fān dòng fú yáo yáng jiǎo

鲲 鹏 展 翅, 九 万 里, 翻 动 扶 摇 羊 角。

Kun Peng(ein sagenhafter Vogel) flattert 90 tausend Meter in die Höhe, schraubt am Himmel.

Rück zu Himmel nach unten gucken, alles sind irdische Städte

bēi fù qīng tīan cháo xià kàn dōu shì rén jīan chéng gūo

背 负 青 天 朝 下 看, 都 是 人 间 城 郭。

Er schaut nach unten, liegen kleine und grosse Staedte.

Geschützfeuer verbindet Himmel, Einschuss überall, erschreckt Spatz

pào hǔo lían tīan dàn hén biàn dì xià dào péng jīan què

炮 火 连 天, 弹 痕 遍 地, 吓 倒 蓬 间 雀。

Geschützfeuer erreicht den Himmel, Einschüsse überall, der Spatz erschrickt.

Oh mein Gott, ich will fliegen

zěn men dé lǐao, ai ya wǒ yào fēi yuè

怎 么 得 了, 哎 呀 我 要 飞 跃。

„Oh mein Gott, was soll ich machen, ich will fortfliegen.“ sagt der Spatz.

Darf ich fragen du gehst wohin, der Spatz sagt es gibt Märchenland

Jìe wèn jūn qù hé fāng, què ér dá dào yǒu xiān shān qióng gé

借 问 君 去 何 方, 雀 儿 答 道: 有 仙 山 琼 阁。

Mein Freund, wohin geht die Reise? “, „Ins Märchenland“, sagt der Spatz

Nicht siehst vorletztes Jahr Herbst, unterschreiben drei Seiten Vertrag

jiàn qián nián qiū yuè lǎng, dìng le sān jiā tiáo yuē

不 见 前 年 秋 月 朗, 订 了 三 家 条 约。

Weisst du nicht? Voriges Jahr haben wir den „Drei-Seiten-Vertrag“ (Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser) unterschrieben.

Sonst Essen Kartoffeln gekocht dann plus Rindfleisch

Hái yǒu chī de, tǔ dòu shāo shú le, zài jiā niú ròu

还 有 吃 的, 土 豆 烧 熟 了, 再 加 牛 肉。

Früher aßen wir gekochte Kartoffeln, jetzt mit Rindfleisch.“

Nicht erlaubt Furz guck mal welterschütternd

bù xū fàng pì! shì kà tiān dì fān fù

不 须 放 屁! 试 看 天 地 翻 覆

Furz nicht, schau mal, die Hölle ist los.“  

Dialog zwischen zwei Vögeln

Kun Peng flattert in 90 tausend Metern Höhe, er wirbelt am Himmel.
Er schaut nach unten, da liegen kleine und grosse Städte.
Geschützfeuer bis zum Himmel, Einschüsse überall, der Spatz erschrickt.
„Oh mein Gott, was soll ich machen, ich will fortfliegen.“ sagt der Spatz.
„Mein Freund, wohin des Wegs? “ „Ins Märchenland“, sagt der Spatz.
„Weisst du nicht, voriges Jahr haben wir den ‘Drei-Seiten-Vertrag’ unterschrieben.
Früher aßen wir nur gekochte Kartoffeln,  jetzt haben wir Rindfleisch.“
„Hör auf zu furzen, schau mal, die Hölle ist los.“  



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