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Und nun? Bleiben mir noch sechs Wochen – oder habe ich noch sechs Wochen? Ich bin am Ziel meiner Reise, aber nicht am Ende, und das macht mich orientierungslos. Mein Gefühl sagt mir, im Laufe der Zeit, am Ende der Welt ›Chile‹. Ich entschließe also über Puerto Madryn und Bariloche nach Zentral-Chile einzureisen. Aber Chile ist weit weg, die Busse bis dorthin werde ich mir nicht leisten können. Vielleicht klappt es per Anhalter …

Morgenlicht blitzt zwischen den Blättern eines Aprikosenbaums hindurch. Ich reiße ihm eines seiner letzten goldenen Blätter ab, lehne mich an den Stamm, schließe die Augen. Meine Lider werden warm. Und ich möchte die Hand halten, die irgendwann, vielleicht dieses Blatt halten wird.

303
Gemütlich habe ich es mir gemacht: Ich habe die Isomatte auf den Kachelboden gelegt, zwischen Wand und Sitzbank, die Jacke zusammen mit dem Pullover zum Kissen gewickelt und eine Tüte Kekse geöffnet. Und wenn ich nach vorn schaue, sehe ich einen kleinen Gasherd, eine Spüle, rechts davon steht Putzzeug, links ein Gasofen. Darüber sind große Fenster angebracht, von wo man das Zollbüro sehen kann. Die Wände sind in den Nationalfarben Argentiniens gestrichen. Ich bin müde vom heutigen Tag, der in Ushuaia angefangen hat.

Vom Gästehaus bis zum Rand der Stadt brauchte ich zwei Stunden. Man kontrollierte meine Papiere und durchgeschwitzt stellte ich mich an die Straße. Glücklicherweise hielt nach nur wenigen Minuten ein Auto: Rubén fuhr mich bis nach Rio Grande. Er arbeitet dort, sie produzieren Fernseher. An einer Küstenstraße schmiss er mich raus. Von dort benötigte ich eine weitere Stunde, bis ich an den Punkt gelangte, wo sich Ausfallstraße und die Ruta 3 Richtung Norden trafen. Diesmal fiel mir das Gehen deutlich schwerer – das Knie. Ich winkte. Und winkte. Und gestikulierte. Niemand hielt, falls überhaupt jemand vorbeifuhr. Die Minuten vergingen. Ich lief auf und ab. Zog mir meinen dicken Pullover über. Es wurde kühler. Ich fragte den Kontrollposten, wo denn all die Autos wären: ›Später, später kommen sie wieder‹ beruhigte man mich. Ich winkte. Und winkte. Und gestikulierte. Aber niemand hielt, falls überhaupt jemand vorbeifuhr. Und dann fuhr niemand mehr und der Kontrollposten sammelte die signalfarbenen Hütchen auf. Feierabend. Ich fragte nach der nächsten Tankstelle – die Antwort ließ mich da, wo ich war. Ich wartete also, da wo schon hunderte Zigarettenstummel ausgetreten lagen. Am Hang graste eine Kuh, Schafe blökten, Möwen kreischten. Ich begann zu frieren, kickte Kieselsteinchen umher. In ihren warmen Kabinen brausten sie an mir vorbei. Lächelnd, abwinkend. Fahrtwind zerrte an den Gurten meines Rucksacks. Und wenn ich jetzt einen Wunsch frei hätte, dann wäre das der, sich in eine Frau zu verwandeln. Denn dann stünde ich hier schon längst nicht mehr. Und das kleine Flugzeug, das über mir kreiste, wäre auch schon gelandet. Und endlich rutschte die Sonne aus einer der Wolkendecken hindurch – aber sie zog nur lange Schatten. Schon längst wärmte sie nicht mehr. Und dann schmolz sie langsam auf dem Kliff. Ich suchte nach einem Platz zum zelten. Nochmals tauchten in der Ferne zwei weiße Lichter auf, sie zischten vorbei und dann verglommen auch die Roten. Ich griff meinen Rucksack und noch einmal tauchten Scheinwerfer auf … Und endlich, nach über zwei Stunden nahm mich ein Händler in seinem – mit Kisten, Vater, Sohn und Hund vollgestopften – Transporter mit. Er fuhr nach San Sebastian, zur Grenze, ›dort ist es einfacher‹, sagte er. Und ich glaubte.

Und nun bin ich hier. Heilfroh, dass es einen trockenen, beheizten Warteraum gibt. Es halten Trucker, aber niemand kann oder will mich mitnehmen: Sie wären nicht versichert eine zweite Person mitzunehmen, und der Boss, der erlaube es ohnehin nicht. Dunkel wird es nur, wenn ich die Augen schließe. Aber selbst dann noch wirkt dieses Dunkel von Licht erhellt, von einem Licht, dass typisch in Ämtern, Warteräumen und Spitälern strahlt. Ab und zu dröhnt noch ein Sattelschlepper vorbei, aber die fahren jetzt alle in Richtung Südspitze. Aber immerhin, 303 Kilometer habe ich heute geschafft.

20,5
Quietschen. Ein Stoß gegen die Wand. Dann Schritte. Eine Hand dreht einen Hahn auf. Das Becken wellt sich knisternd. Dann fällt die Tür wieder ins Schloss. Verspannt schäle ich mich aus dem Schlafsack. Ich fühle mich wie nach einer thailändischen Reisbauern-Massage. Eine halbe Stunde noch bis die Grenze geöffnet wird. In der Nacht hat sich eine LKW-Schlage gebildet. Sie verschwindet im Nebel. Aus dem Zollbüro kommen die ersten Fahrer zurück – aber der Start in den Tag ist zermürbend: Die, die Platz haben, dürfen nicht, und die, die dürfen, haben keinen Platz. Und die, die Platz haben und dürfen, die fahren nicht da hin, wo ich hinfahren will. Es bleibt nebelig und klamm. Ich geh wieder in den Aufenthaltsraum. Und warte. Gehe wieder raus, sobald ich etwas höre, und gehe wieder rein, sobald man mir sagt ›nein‹. Die Zeit scheint stehengeblieben. Achsa schrieb noch, dass es einfach wäre, auf der Ruta 3 wäre viele Trucker. Aber ich, ich bin ein Mann, denke ich.

Gegen Mittag halten wieder Autos – es bleibt wie es war. Frust: Die, die Platz haben, dürfen nicht, und die, die dürfen, haben keinen Platz. Und die, die Platz haben und dürfen, die fahren nicht da hin, wo ich hinfahren will. Inzwischen habe ich mein Spanisch-Wortschatz um Sätze wie ›ich kann mein Gepäck aufessen und mich klein machen wie ein Marienkäfer‹ oder ›ich verstecke mich im Tank‹ erweitert. Aber es hilft alles nichts. Dann erspähe ich zwei Frauen! Sie wollen mich mitzunehmen. Dann sehen sie meinen Rucksack: ›Ich solle es bei den Truckern versuchen!‹. Ich antworte: ›Das versuche ich seit gestern. Die Meisten dürfen nicht. Sie sind meine einzige Chance! Bitte!‹ Sie antwortet freundlich, während sie die Sonnenbrille nach unten schiebt: ›Irgendeiner wird sich finden!‹. Dann sind sie weg und ich trete fluchend gegen den Bordstein. Es wird wieder still. Nur die Brandung ist zu hören. Die Argentinische Flagge weht zerfleddert im Wind. Es beginnt zu regnen. Ich geh wieder in den Aufenthaltsraum. Und warte. Warte. Dann kommen Trucker. Und fahren weiter. Ohne mich. Ich treffe Daniel Düsentrieb auf einer Suzuki 550. Und er spricht das aus, was ich über die Trucker denke. Ich habe beschlossen den nächsten Bus nach Rio Gallegos zu nehmen. Dass der erste Bus allerdings heute morgen aber auch der einzige war, erfahre ich kurz nach Eins.

Dann wird es zwei. Dann drei. Und Gabriel – ein blutjunger bildhübscher Mann mit übertriebener soldatischer Gestikvon der Grenzpolizei fragt, warum es nicht klappt. Und ich erzähle ihm, was man mir erzählt. Er empfiehlt an den Chilenischen Grenzposten zu gehen, dort wäre es einfacher. ›Aber nein, hier habe ich einen Raum, der warm und trocken ist, wer weiß was drüben ist – und, außerdem, no soy una mujer‹. Er lacht und sagt, dass später ein Post-Auto nach Rio Gallegos übersetzt. Die würden mich mitnehmen – er würde das schon regeln.

Ein langhaariger rotgesichtiger Mann – ein Indianer im Jogginganzug – kommt von der Toilette. Unter dem Arm trägt er eine Mappe, wie alle Trucker sie tragen, die zum Zollbüro müssen. Ich frage nach seinem Weg und ob er Platz hätte … und kann es kaum fassen … Ich wuchte meine Sachen in seine Kabine, er schiebt sie auf seine Pritsche. Endlich, nach zwanzigeinhalb Stunden. Seine Kabine wirkt heimelig. Es ist warm und überall baumeln Fähnchen, Bilder und ein Stars-and-Stripes-Duftbaum. Es riecht nach Mate-Tee, gekautem Koka und Tabak. Wir kommen ins Gespräch: Er ist interessiert, fragt wo ich wohne, wie Deutschland aussieht, ob Ost und West immer noch getrennt sein – er meint das im mentalen Sinne – und später regt er sich auf, über die Korruption in Argentinien, die Politiker, die Elite, die viel Geld aber nicht viel Arbeit will, über die Bildungschancen der ›woorking poor‹. Er selbst würde täglich bis zu 18 Stunden am Tag arbeiten – und einmal, da ist er 54 Stunden am Stück gefahren. ›Nein, Gesetze, wie lange man fahren darf, gibt es nicht und nein, Unfälle würden auch nur PKWs verursachen‹ sagt er. Ich habe Schwierigkeiten ihn zu verstehen, denn die ganze Zeit über kaut er Koka. Vor uns ist ein LKW in eine Grube geschlittert. Er steigt aus, hilf mit, Abschleppseile anzubringen und irgendwann ist der LKW aus der Grube gezogen und wir fahren weiter. Weiter durch eine graue vergilbte Ödnis. Ab und zu erhasche ich Guanacos durch die Steppe springend. Wir setzten mit der Fähre über und müssen wieder eine Grenze passieren. Ich frage ihn nach den Ursachen dieser Grenzziehung auf Feuerland. Denn man muss wissen, das Feuerland einerseits geologisch durch die Magellanstraße vom Festland getrennt ist, und andererseits, politisch in Chile im Westen, und Argentinien im Osten. Um also von der Südspitze Argentiniens in den Norden Argentiniens zu gelangen, muss man zu erst aus Argentinien ausreisen, nach Chile einreisen, dort nordwärts bis zur Fähre fahren, mit dieser die Magellanstraße queren, dann weiter nördlich wieder aus Chile ausreisen und wieder in Argentinien einreisen. ›Diese Grenze würde schon ›seit immer‹ bestehen, und eigentlich ist sie nur dazu da, den Leuten Geld aus der Tasche zu ziehen.‹ Es dämmert. Er macht Musik an, Argentinische Folklore, Rock aus den Achtzigern – und ich muss ihn nicht mehr fragen, was er denkt, wenn er diesen unendlichen Straßen folgt, diesen Straßen die immer bis in die Nacht führen.

Kurz vor Mitternacht erreichen wir Rio Gallegos. Und passieren es. Ich freue mich. Um kurz nach zwei Uhr morgens halten wir an einer Tankstelle. Männer in Blaumännern tanken auf, ich besorge heißes Wasser für den Tee, er kauft Kekse und Zigaretten ein. Dann, leider, muss er mich rausschmeißen: Er hätte mit seinem Chef telefoniert und dieser möchte nicht, dass er mich weiter mitnimmt. Denn auch er sei nicht versichert und er will es sich nicht mit der Polizei verscherzen. Ich bedanke mich bei ihm und stehe nun da. Um zwei Uhr morgens an einer Tankstelle, von der ich noch nicht weiß, das sie in Santa Cruz liegt. Auf dem – von Birken geschützten – Hinterhof der Tankstelle, hinter parkenden Sattelschleppern, schlage ich mein Zelt auf. Der Wind bläst heftig, kann aber wenigstens, das mir Sorgen bereitende Gebell eines großen Hundes forttragen. Um kurz nach drei geh ich schlafen.

90.000
Das Dröhnen anfahrender LKWs weckt mich. Ich fühle mich wie geschrotetes Korn. Mein Magen knurrt, ich bin schwach auf den Beinen – aber Stress ist das sättigenste Brot: Ich will keine Chance verstreichen lassen und frage den ersten Trucker … und … bin überrascht, denn schon der Erste nimmt mich mit. Sein Name ist Hugo. Er wirkt müde, sein Gesicht ist zerknittert, die Augen klein, der Blick flackernd. Nach kurzen Small-Talk verstummen wir. Sein LKW ist heruntergekommen: Steinchen haben die verdreckte Windschutzscheibe beschlagen, die Armatur wackelt, das Radio rauscht, seine Unterhose hängt trocknend an meiner Seite. Er trinkt Energie-Drinks, mampft Kekse. Kurz vor 11 Uhr muss er sich doch nochmal hinlegen. An einer Raststation kaufe ich mir Käse-Schinken-Brote und Coca-Cola. Ich esse langsam.

Im Laufe der Fahrt spricht auch er über die Regierung: Und auch er lässt kein gutes Haar an ihr. Aber es wundert mich nicht. Denn wenn Menschen 16, 18 Stunden am Stück schuften – wie sollen sie Kraft aufbringen, sich politisch zu engagieren? Politische Teilhabe verkommt dann zu einem ewigen Genörgle und Besserwisserei. Und trotzdem, er ist gerne Trucker, schon sein Vater fuhr. Er schwärmt von La Plata an der Küste, da solle ich unbedingt hin. Dort wären die schönsten Frauen des Landes, denn dort sind viele öffentliche kostenfreie Universitäten angesiedelt. Wir kommen nur langsam voran. Er fährt 40 Tonnen, Elektronikartikel. Sein LKW ächzt. Mercedes wäre nicht das Nonplusultra – Volvo und Scania würden die besten LKWs bauen. Aber ein Scania, der kostet um die 150.000 US-$, ein Mercedes brasilianischer Produktion nur 90.000.

Auf meinem Weg in den Norden möchte ich noch einen versteinerten Wald besuchen. Ich werde in Comodoro Rivadavia aussteigen und von dort landeinwärts nach Sarmiento, einem kleinen Dorf, in dessen Nähe sich dieses 65 Millionen Jahre alte Naturwunder befindet. Am frühen Abend lässt er mich am Busbahnhof raus. Es ist bereits Nacht, als ich in Sarmiento ankomme. Ein Hostel lohnt nicht. Ich frage nach einem Camping-Platz. ›Ja, aber dieser ist zu weit weg!‹ Ich gehe dennoch zu Fuß los, um weniger Meter später von einem Pick-Up angehalten zu werden. Er bremst scharf. Ich bin verdutzt. Ein älterer Mann mit Mütze und weißlichem Dreitagebart springt heraus und greift nach meinem Rucksack. ›Komm! Wir fahren dich hin, ist zu weit weg!‹ Ich gebe mich geschlagen und steige ein. Für Augenblicke denke ich, dass ich gleich ausgeraubt werde. Sie verhalten sich zu offensiv. Ich werde unruhig. Aufatmen. Nach eineinhalb Kilometern kommen wir an. Ich bedanke mich. Bleibe aber irritiert: Weit, war das nicht. Dann aber die böse Überraschung: Die Frau vom Campingplatz nennt mir – für mein Verständnis – völlig überhöhte Preise. Und erst später werde ich erfahren, dass ich mich in einer Region befinde, die vom ›schwarzen Blut‹ lebt. Und da wo Pumpen es zu Tage fördern ist Geld. Viel Geld, da unsere Maschinen, unserer materieller Fortschritt nie aufhören will. Ich frage nach Alternativen – sie zeigt mit dem Finger in die Dunkelheit. Der Wind streicht durchs Gras. Ich schlage mein Zelt am Straßengraben auf, zwischen Schotter und Maschendrahtzaun, im Windschutz einer Birke. In der Nähe surrt ein Sendemast. Als ich aufgebaut habe, gehe ich noch mal hinaus: Eine horizontal gespannte Lichterkette aus Orange und Weiß flimmert am Horizont. Vollmond. ›Mittwoch Abend: Die Lichter der Stadt: Kollier, weiß, orange, an Schnur gespannt. Hundege Hundebellen. Endlich alleine. Vielleicht muss ich mich deshalb besaufen, schreiben oder doch davon laufen … Flucht … ich vermisse gerade nichts … vielleicht weil ich müde bin.‹ finde ich am nächsten Morgen mit weichem Bleistift in mein Notizbuch geschrieben, nachdem fernes Hundegebell mich in Schlaf gebracht und vorbeiziehende Autos am Morgen aufgeschreckt haben.

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Hungrig und verspannt packe ich meine Sachen zusammen und stehe schließlich doch wieder an einer Tankstelle: Das günstigste Hostel in Sarmiento würde mehr als mein ganzes Tagesbudget ausschöpfen. Der 30 Kilometer entfernte versteinerte Wald ist infrastrukturell nicht erschlossen. Zelten ist dort verboten. Aber ich könne eine dreistündige Tour buchen – für ›nur‹ 150 Pesos. Das heißt, erläutert man mir, zwei Stunden davon gehen für Hin- und Rückfahrt drauf.

Ich bin ein wenig frustriert: Umsonst – im übertragenden Sinne – hier gewesen. Aber ich scheine Glück zu haben. Ich stehe keine halbe Stunde, als ein Scania anhält. Der junge Mann muss Zement von der Küste abholen. Auch er fährt in der zweiten Generation Truck. Als er klein war, hat er sein Vater immer begleitet. Auf der Fahrt reden wir über Motorräder, Bier und Fußball – bei ersten Thema kann ich mitreden, beim zweiten, da kann so manch einer meiner Freunde ein Klagelied darüber singen, beim dritten denke ich ›mein lieber Herr Gesangsverein, da hat er aber einen Udo Lattek aufgegabelt‹. Trotzdem kann ich ihn mit einer Anekdote aus meiner Fußballzeit amüsieren: ›Fußball? Nein, interessiert mich nicht wirklich. Aber ich spiele schon gerne, wenn ich denn mal spiele … als ich klein war, da war ich im Verein, im TUS Harenberg … aber das einzige Tor, dass ich je schoss, war ein Eigentor … neh … ich glaub, das mochte mich nicht, das Team.‹ Und dann erzählt er, wie gerne er in jungen Jahren kickte. ›Wir haben viermal die Woche gespielt, aber heute geht das nicht, die Arbeit …‹ Und die ganze Zeit begleiten uns ACDC, die Red Hot Chili Peppers und Guns’n'Roses. ›Ob ich die Red Hot Chili Peppers mal live gesehen habe? … nein, ach, wenn die mal spielen, dann nur in Buenos Aires … und das ist zu weit weg … sehr kompliziert … die Arbeit …‹ Schließlich erreichen wir Comodoro Rivadavia, und obwohl ich wieder nicht sicher bin, per Anhalter weiterzukommen, lasse ich mich erst am Nordausgang der Stadt rausschmeißen. Bevor der Nachtbus nach Puerto Madryn kommt, möchte ich die Zeit nutzen. Notfalls gehe ich zum Busbahnhof zurück. In der Tankstelle finde ich Gelegenheit zur Katzenwäsche. Dann stelle ich mich an die Straße. Mir gegenüber hat die Polizei ein Provisorium aufgebaut. Ich lehne an einem Laternenmast, an dem sich schon unzählige Tramper verewigt haben. Die älteste Gravur ist von 1989: ›Aldo y Oscar Ushuaia‹ steht da eingeritzt. Zwei junge Kerle kommen auf mich zu. Beide geben mir sogleich die Hand – die führen was im Schilde vermute ich – und zwei Sätze später sind wir beim Thema Marihuana. Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen und zeige auf die andere Straßenseite. Die Intelligenzbestien zischen ab.

Achsa hatte recht: Es ist verdammt einfach. Nach nur wenigen Minuten stoppt erneut ein LKW. Victor heißt der Gute, er liefert Coca-Cola nach Trelew. Meine Richtung. Ich schmeiße mein Gepäck auf die Ladefläche. Dann setzt er denn Blinker. Victor ist ein ausgesprochen angenehmer Gesprächspartner. Vielleicht aber auch nur, weil in den letzten Fahrten mein Spanisch erstaunliche Fortschritte gemacht hat … Auch diese Fahrt zieht sich hin. Und während die Kilometertafeln an uns vorbeiziehen, denke ich an Jahreszahlen – an die Epochen der europäischen Menschheitsgeschichte: Gerade haben wir den 1. Weltkrieg vergessen, als das Kommunistische Manifest in unsere Hände gelangt. Bald hören wir von der Julirevolution. Dann döse ich ein und erst der zischende Dampf der ersten Dampfmaschine weckt mich wieder. Wir überleben den Dreißigjährigen Krieg, wohnen der Beerdigung Leonardo da Vinci’s bei, entdecken den Südamerikanischen Kontinent und als Christoph Columbus gezeugt wird, halten wir endlich … Victor parkt außerhalb der Stadt. Seine Familie holt uns ab. Seine Frau trägt ein liebliches Parfum. Und erst jetzt bemerke ich meinen eigenen Geruch. Gefällig wie Victor ist, werde ich noch bis zum Busbahnhof in Trelew gefahren, von wo ich ein Ticket nach Puerto Madryn löse.

Morgenlicht blitzt zwischen den Blättern eines Aprikosenbaums hindurch. Zeit ist wie ein billiges Kaugummi: Manchmal viel zu schnell vorbei. Heute ist Freitag, der fünfte Tag. Und ich bin auf Argentinischem Boden. Immer noch. Chile war.


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