Zu Helmut Böttigers Verdiensten zählt der deutliche Hinweis, dass die proklamierten Thesen vom «Nullpunkt» und «Kahlschlag» der Nachkriegsliteratur einem «Wunschdenken» entsprachen. Genauso wichtig ist, dass es Richter und seinen Mitstreitern keineswegs darum ging, eine einförmige Ästhetik zu propagieren. Natürlich dominierten in den Anfängen die Darstellung der Kriegsnachwirkungen und eine Hinwendung zu einer von amerikanischen Autoren beeinflussten schmucklosen Prosa. Doch es ist völlig verfehlt, der Gruppe 47 pauschal einen, wie es Martin Mosebach noch 2011 tat, «sozialdemokratischen Realismus» zu unterstellen.
Böttiger erinnert eindringlich an (Halb-)Vergessene wie Hans Jürgen Soehring oder Gisela Elsner, streicht die zentrale Rolle des Berliner Autors und Germanisten Walter Höllerer heraus, betrachtet kritisch das Chamäleonverhalten Hans Magnus Enzensbergers und verdeutlicht das Scheitern Richters, Exilanten wie Albert Vigoleis Thelen oder Hans Sahl einzubinden. Zudem gab es Autoren, die aus unterschiedlichen Gründen keinen rechten Zugang zur Gruppe fanden und Sonderrollen einnahmen. Arno Schmidt und Wolfgang Koeppen zählen dazu – und Hermann Lenz, der 1951 einen glücklosen Auftritt hatte und sich diese Schmach dreissig Jahre später in seinem Roman «Ein Fremdling» von der Seele schrieb. / Rainer Moritz, NZZ
Martin Mosebach, der eigenwillige Solitär, lehnt die Einladung ab und fragt ironisch: »Muss man bei der Gruppe 97 auch singen, oder braucht man nur nackt vorzulesen?« Und bei einem Gastauftritt der Gruppe im amerikanischen Princeton schließlich würde plötzlich ein junger österreichischer Provokateur mit komischer Frisur namens Clemens J. Setz auftreten und den Autorenkollegen kurzerhand »Beschreibungsimpotenz« vorwerfen – was wiederum diesseits des Atlantiks sogleich literaturhistorische Wellen schlüge.
All das ist eine reichlich unrealistische Fantasie, wie jeder unschwer sieht, der den heutigen Literaturbetrieb einigermaßen kennt. Und doch hat sich all das in der deutschsprachigen Literatur einmal ungefähr so abgespielt, selbstredend mit anderem Personal, jedoch mit enormen Folgen. / Alexander Cammann, Die Zeit
Helmut Böttiger: Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012. 480 S., Fr. 37.90. Hans Werner Richter: Mittendrin. Die Tagebücher 1966–1972. Hrsg. von Dominik Geppert in Zusammenarbeit mit Nina Schnutz. Verlag C. H. Beck, München 2012. 383 S., Fr. 39.90.