Mir hat es die letzte Strophe angetan. Sie spielt mit Positionen und Bezügen und dem, was man landläufig von Poesie immer erwartet: mit der veränderten Sicht auf Dinge. Dass der Herbst ein Küsser ist, der selbst vor dem Bewirker der Welt nicht Halt macht und ihm rote Wunden in den Lauf der Dinge zwingt mit einem bloßen, sanften Lippenbekenntnis (oder auch: mit leidenschaftlichen windigen Bissen?). Der Herbst – eine Macht, die unbeeinflusst ist vom unsichtbaren Lenker. Das ist so typisch eine poetische Erhöhung, eine Pathetisierung der sonst handelsüblichen Verhältnisse, wie sie nicht bildhafter ausgemalt sein kann in der Lyrik der großen Worte und großen Gedanken, zu der man sich jahrzehntelang berufen fühlte lange vor und lange nach der Jahrhundertwende 1900. Der Herbst ist der King im Ring, wenn er zuschlägt, wankt selbst der Gesalbte. Nicht ganz so: eine Umarmung geht voran, er ist der Bestimmer im Bett, es ist sein Bett, er küsst und verwundet durch seinen Kuss. Der Herbst, als alte Potenz noch aus Urzeiten, macht, dass das Blühen und Wachsen, Werden und Gedeihen umgelenkt wird in Reife und Frucht. Der Beleber, der alles erzeugt hat, leidet unter der Umarmung des Herbstes, dem Mantel des Mönches und kriegt rote Pickel mit fruchtbarem Eiter. / Frank Milautzcki, Fixpoetry, über das Gedicht “Herbst” von Sergej Jessenin (1895 – 1925)
Die letzte Strophe in der Übertragung von Wanda Berg-Papendick (1939):
An der Eberesche reifem Zweig er küßt
Wunden, blutigrot, dem unsichtbaren Christ.
Bei Celan, celanesk:
Wind, er weht zur Staude mit den Vogelbeeren
Christus, deine roten küsst er, deine Schwären.
Hier das Gedicht im Original, lesen Sie die Übersetzung bei Fixpoetry:
ОСЕНЬ Р.В.Иванову Тихо в чаще можжевеля по обрыву. Осень - рыжая кобыла - чешет гривы. Над речным покровом берегов Слышен синий лязг ее подков. Схимник-ветер шагом осторожным Мнет листву по выступам дорожным И целует на рябиновом кусту Язвы красные незримому Христу. <1914-1916> Andere Übersetzungen hier (Eric Boerner) und hier (Waldemar Dege)