19. Oktober 2010, Abgeschoben, 8.01 Uhr

Das kleine Mädchen sieht dich an. Es wurde abgeschoben. Es ist nicht mehr in Deutschland. In seinen Träumen aber ist es noch in Deutschland. Es wohnt nun in einem gefährlichen Gebiet. Nebenan suchen Kinder den ganzen Tag auf einer Mülldeponie nach Blei und Aluminium. Das Mädchen versteht die anderen Kinder nur schwer. Sie ist nicht in diesem Land geboren. In ihren Träumen weht ihr Haar hinüber in die Wohnung von Sabine. Sie steht mit ihrer Freundin auf dem Balkon und starrt in die Tiefe. Das ist aber hoch, sagt sie.
Das kleine Mädchen sieht den Mann, der seit Tagen um ihr Haus schleicht.
Ich will auf den Schulhof, sagt sie.
Die Schule ist zerbombt, sagt die Mutter.
Es gibt hier also keine Schule?
Die Mutter zeigt zu dem Mann hin, der sie anlächelt und winkt. Dann geht die Mutter. Sie sagt: Warte hier.
Die Mutter kommt nicht zurück. Das Mädchen sitzt in der Ecke des verfallenen Hauses und weint. Sie trinkt ihre Tränen. Sie hat Durst und Hunger. Sie hat Heimweh. Sie will endlich wieder nach Hause.

Es regnet, der Wind krallt sich an den Häuserwänden fest, ich denke an das Kindergesicht, sah es im Fernseher, vor dem Fernseher lässt sich das Grauen ertragen, wir müssen gleich los, sagt Seraphe, sie legt mir die Hand auf die Schulter, ich nicke, trinke noch einen Schluck von meinem Kaffee, las gestern irgendwo wieder einmal darüber, wie die Literatur denn zu sein habe, das kann ich schon längst nicht mehr lesen, diese Standortbestimmungen, ich lass es nicht gelten, die sollen das für sich behalten, denke ich, tippe den nächsten Buchstaben, immer weiter schreiben, die Geschichten fallen vom Himmel, die sitzen überall, die hocken verängstigt hinter Mauern und hoffen auf die Rückkehr der Mutter.
Seraphe und ich werden nach Frankfurt fahren, treffen uns dort mit Verleger Seeling, später noch mit Ulla Bayerl von Faust. Regen tropft aufgeregt gegen die Scheiben. Ich sitze in der Trutzburg. Ich habe alles, was ich zum Leben brauche. Ich überprüfe meine Tasche. Dort sind die Zigaretten. Meine Muse zieht sich bereits an. Es wird Zeit.
Was für ein Wetter, denke ich, dann sehe ich zu dem Mädchen hin, die Mutter wird nicht mehr kommen, sage ich, ich will ihr die Hand reichen. Sie sieht mich großen leeren Augen an. Sie greift nicht zu, weil sie mich nicht sehen kann. Sie hört Geräusche. Da kommt jemand.
Lauf, schreie ich.
Der Mann kommt zurück …



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