18. Dezember - vom Werden

18. Dezember - vom Werden
18. Dezember - vom Werden
  In einem Lagerschuppen nahe einem Garten lebte einmal eine zufriedene und bequeme Tulpenzwiebel. Vielleicht wäre sie dort alt geworden, wenn sie der Gärtner nicht eines Tages ergriffen hätte, um sie einzupflanzen. „Es ist an der Zeit“, sagte er zu ihr. „Heute ist die Stunde gekommen, dein Leben kennen zu lernen – das eigentliche, das erfüllte Leben.“ „Deine rätselhaften Worte ängstigen mich, Gärtner“, entgegnete die Tulpenzwiebel mit zitternder Stimme. „Das Leben zu lernen scheint mir nicht so verheißungsvoll zu sein, wie du es sagst. Es ist so ungewiss, was aus mir werden wird. Stimmt es denn, dass man in die tiefe dunkle Erde muss und ganz schmutzig wird? In dem Lagerschuppen, in dem ich bisher lebte, war alles sauber. Ich war bei meinen Freunden und fühlte mich geborgen.“ „Du wirst dein Leben in dieser sauberen, wohlbehüteten Umgebung nicht finden. Dein Leben will entdeckt und gelebt werden. Du wirst dich auf die Suche machen müssen, sonst bleibt alles in dir gefangen, du würdest in dir vertrocknen zu einer alten, dürren Zwiebel. Dein Leben würde nie in dir aufbrechen und keimen, wenn du so bleiben willst, wie du es jetzt bist. Du wirst es nur finden, wenn du die Mühe des Wachstums auf dich nimmst. Hab´ Vertrauen! Das Leben ist größer und schöner als unsere Angst.“ "Aber wenn du mich eingräbst, dann sterbe ich in der feuchten und finsteren Einsamkeit der dunklen Erde“, wehrte sich die Tulpenzwiebel immer noch. "Was heißt schon sterben", entgegnete der Alte. „Du siehst es nur von einer Seite. Aus dem Dunkel der Erde wird dein neues Leben wachsen. Du stirbst nicht, du wirst verwandelt. Je mehr du deine alte Gestalt aufgibst, desto mehr wird eine neue geboren, deine eigentliche Gestalt. Du kannst nicht bleiben, wie du jetzt bist. Werde die, die du wirklich bist!“ „Das klingt fremd für mich Gärtner. Werde die, die du wirklich bist? Ich bin schon jemand, eine Tulpenzwiebel.“ „Leben bedeutet nicht zuerst zu sein, sondern zu werden. Wachsen und Reifen! Diese Gestalt einer Zwiebel ist noch nicht alles. In dir steckt noch viel mehr, als du jetzt noch zu sehen vermagst. Du darfst nicht glauben, was du jetzt noch nicht erkennen kannst, sei deshalb nicht vorhanden. Alles Sichtbare wächst aus dem Verborgenen. Du bist ein Samen voll blühender Zukunft, voll unendlicher Lebensmöglichkeiten, die tief verborgen in dir schlafen und nur darauf warten, geweckt zu werden.“ „Aber ist das Licht der Sonne denn nicht genug, um meine Lebenskraft zu wecken? Warum muss ich das Dunkel und die schwere Erde ertragen?“ „So einfach wie du denkst, ist es mit dem Leben nicht“, erklärte ihr der alte Gärtner. „Manches, was dir heute weh tut und als Unglück erscheint, kann morgen einmal Dein Glück bedeuten. Es ist alles andere als bequem, sein wahres Wesen und die Erfüllung seines Lebens zu finden. Dein Leben ist eine Aufgabe: Du musst dich selbst aufgeben, loslassen und etwas wagen, wenn dein Leben sich in seinem ganzen Reichtum entfalten soll. Auch das Erleben und Erleiden dunkler Stunden gehört dazu. Nicht nur das Licht der Sonne fördert unser Leben, sondern auch die dunklen Stunden. Widerstände und Hindernisse fordern und fördern unsere Fähigkeiten und unsere Lebensenergie auf ihre ganz eigene Weise und helfen uns zu wachsen und zu reifen, wie nur sie es vermögen.“ Nachdem er dieses gesagt hatte, grub der alte Gärtner ein Loch und pflanzte die Tulpenzwiebel ein. Kurze Zeit sah sie noch einen Lichtpunkt über sich, dann aber umfing sie undurchdringliche Finsternis. Die lange, beschwerliche Zeit des Wachstums begann. „Jetzt ist es bald zu Ende mit mir“, jammerte die kleine Tulpenzwiebel angesichts ihrer aussichtslosen Lage. „Es hätte doch so schön sein können, aber nun vergeht mein Leben in der Erde!“ Ihre schöne Gestalt veränderte sich mehr und mehr. Sie war nicht länger eine glatte, wohlgeformte Zwiebel, sondern begann runzelig und schrumpelig zu werden. Aber sie bemerkte auch, wie sich tief in ihr etwas regte und bewegte, von dem sie nicht sagen konnte, was es war. Dieses Gefühl in ihrem Inneren versetzte sie für viele Wochen in unbekannte Unruhe. Nach langen, traurigen und düsteren Tagen durchfuhr sie ein heftiger Schmerz, als ob eine Lanze sie aus ihrer Mitte durchbohrte. Diese Wunde eröffnete ihr einen neuen Lebensraum. Der Panzer ihres bisherigen Lebens war durchbrochen. An die Stelle abgrundtiefer Finsternis trat wenig später taghelles, wärmendes Licht. Ihr erster Trieb hatte nämlich die Zwiebelschale und den Erdboden durchdrungen. Das flimmernde Sonnenlicht, ein erfrischend prickelnder Luftzug und das vielstimmige Lied der Vögel umwarben sie nun. „Das also meinte der Gärtner mit Entfaltung und Wachstum“, dachte die heranwachsende Blume. „Wachstum betrifft das ganze Wesen. Mein äußeres Wachstum ist ein Gleichnis für etwas noch größeres und schöneres, das tief innen in meiner Mitte beginnt, um nach außen in die Welt zu gelangen. Wachstum bedeutet, die Schale zu durchbrechen, damit sich der Kern, das eigentliche Wesen, entfalten kann. Wachstum meint also, wesentlich zu werden!“ Sanft streichelten die Sonnenstrahlen den hellgrünen Trieb, der sich wohlig räkelte und unter den Zärtlichkeiten der Sonne wuchs. Es tat ihm gut, dass die Sonne ihn einfühlsam zum Leben lockte, ganz wie es seiner Kraft entsprach. Mit der Zeit bildete sich am Schaft des Triebes eine Verdickung. Die Blüte reifte und reifte. "Noch lebst du nur für dich selber und verwendest deine ganze Kraft auf die Entfaltung deines Wesens“, erklärte ihr der Gärtner. „Aber bald wirst du ganz offen sein für das Lachen der Sonne, für die Schmetterlinge, für den Wind und für den Regen. Dann kannst du deinen Samen weitergeben, damit neues vielfältiges Leben wachsen kann. Du wirst durch dein Leben Farbe und Duft und Freude in die Welt tragen und einen Platz ausfüllen, um diesen Garten für alle lebendiger und bunter zu machen. Dann wirst du blühen, kleine Blume, und es wird keine einzige Blume in diesem großen Garten geben, die so ist wie du.“
 U. Peters |
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18. Dezember - vom Werden

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