ENZENBERGERS JUNI-LEKTÜRE
Der Spiegel 6.6. 1962 *)
GOTTFRIED BENN
“AUTOBIOGRAPHISCHE UND VERMISCHTE SCHRIFTEN”
Limes Verlag, Wiesbaden; 524 Seiten; 25,50 Mark
Gottfried Benn hat sich zeit seines Lebens für einen Denker gehalten. Er neigte zum Pathos der Präzision und nannte sich gern einen “Intellektualisten”: “Das ist wohl jemand, der Begriffe liebt, scharf wie Brotmesser.” Leser und Kritiker ließen sich blenden und übersahen, was an Benns Gedanken schartig und verrostet war.
Mit Definitionen hielt der Meister sich ungern auf: “Geistanthropologischer Geist, arthaftes Prinzip, Entelechie, Ursein, Bewußtsein.” Das ist verblasen gedacht und schlammig formuliert. Oder: “Mich sensationiert eben das Wort … rein als assoziatives Motiv, und dann empfinde ich ganz gegenständlich seine Eigenschaft des logischen Begriffs als den Querschnitt durch kondensierte Katastrophen.” Überhaupt diese unglückliche Liebe zu Fremdwörtern: “Autopsychisch solitär, faulig monokol”; “syndikalistisch-metaphys”: vor derartigen Unfällen hätte den Denker jedes Wörterbuch bewahren können. “Alles ist monistisch, alles ist transzendent.” Hat sich denn nie jemand gefragt, was solche Sätze bedeuten sollen? Philosophie als Rührei, und im nächsten Atemzug dann die prophetische Gebärde: “Soweit ich viertausend Jahre Menschheit übersehe -”
So ward Benn, der die Feuilletonisten mit Hohn übergoß, selbst zum Musterstück der Gattung. “Schriftsteller, die ihrem Weltbild sprachlich nicht gewachsen sind”, schrieb er, “nennt man in Deutschland Seher.” Benn indessen war seiner Sprache intellektuell nicht gewachsen: sie lief ihm auf und davon. “Stil”, verkündete er, “ist der Wahrheit überlegen.” Aber die Wahrheit nahm Rache an seinem Stil. 1932 sinnierte er über die Wirtschaftskrise und kam zu dem Schluß, “daß alle Dinge ihren Widerspruch in sich tragen, daß auch der Weizen umschlagen kann vom Vorteil in die Vernichtung, daß auch die Kornfrucht nicht losgelöst ist aus dem Lebensgesetz tragischer Dialektik”.
Ein Jahr später war die Verfinsterung der Gedanken vollkommen. Die Sprache ging dabei vor die Hunde: die Machtergreifung Hitlers war “eine der großartigsten Realisationen des Weltgeistes”, Treue “das Mark der Ehre”, “‘unerschöpflich” der “Schoß der Rasse”. “Gegenargumente lagen eigentlich gar nicht vor.” Hilflosigkeit: “Nun hatte ich mich ja in gewissem Sinne entschieden gehabt, mich der Volksgemeinschaft anzuschließen, aber doch nicht in diesem Sinne.” Zehn Jahre später, angesichts des Trümmerhaufens, dankte der “Radardenker” endgültig ab, der einst auf Hegel, auf die “Anstrengung des Begriffs” sich berufen hatte: “Man kommt den Dingen mit Gedanken nicht mehr nahe.”
*) Tja, damals war ich für den Spiegel zu jung. Heute ist er für mich zu alt. So kommen wir nicht zusammen. M.G.