15. Januar 2011, Die ewige Mitte (Kleine Spielszene für einen geflohenen Diktator), 7.11 Uhr

Der Diktator steht hinter einem schmucklosen alten Holztisch. Er trägt einen langen Mantel, unter dem, schlägt er ihn manchmal zurück, um seine Hand in die Hosentasche zu pressen, Messer aufblitzen. Links von ihm der Chor des verlassenen Volks. Rechts von ihm der Chor der durch ihn Getöteten.

Diktator: Das soll der Dank sein, den ich erhalte? Unzählige Jahre presste ich das Volk aus. Ich ließ vergewaltigen, foltern und töten.

Chor der Getöteten: Davon können wir ein Lied singen.

Diktator: Ruhe! Ihr redet nur, wenn ich es euch erlaube. Denn darum geht es doch: Macht über Leben und Tod zu haben. Es geht um das Einschreiben in die Geschichtsbücher. Es geht um ein Stück Unsterblichkeit.

Chor der Getöteten: Von der Unsterblichkeit hätten wir gerne auch ein Stück.

Diktator: Ihr seid längst tot. Und der Kuchen ist längst verspeist.

Chor des verlassenen Volks: Hier liegen noch so einige Reste herum. Vielleicht werden wir von denen endlich satt.

Diktator: Das glaube ich nicht. (Lacht laut auf.) Das wird nicht so sein. Die Gelder sind längst beiseite geschafft. Es gibt eine Allianz des Bösen. Dessen müsst ihr euch gewiss sein. Die Welt ist nicht auf eurer Seite. Die Welt ist auf der Seite der Empathie, der vorübergehenden Empörung. Die Welt ist auf der Seite eins, die morgen bereits mit anderen Namen gefüllt sein wird, ja, gefüllt sein muss. Die Journalisten haben keinen Gefallen an einem Diktator im Exil. Zumal wenn er an Gicht leidet und sich die meiste Zeit über Soaps ansieht. Damit füllt man keine Zeitungen, keine Fernsehsendungen. Sie werden euch rasch vergessen. Und dann kommt einer, der euch viel versprechen wird, um schließlich nichts zu halten. Denn das ist Politik. Das habt ihr nur nie begriffen.

Chor der Getöteten: Wir leider schon.

Diktator: (Wendet sich direkt zum Chor.) Mit euch redet eh keiner mehr. Gehet hin und zählt Engel. Vielleicht findet ihr dann die Ruhe, die ihr endlich geben solltet. Findet euch damit ab. Tot ist tot und wird nicht wiedergeboren.

Chor des vergessenen Volks: Aber wir leben noch, wir leben noch. Wir werden nicht schweigen. Wir werden deine Verbrechen aufdecken.

Diktator: Ja, ja, macht das nur. Kümmert euch nur nicht um die Zukunft, grabt recht fein in der Vergangenheit, denn sonst müsstet ihr euch am Ende noch mit dem eigenen Spiegelbild beschäftigen, mit der eigenen Erbärmlichkeit.

Chor des verlassenen Volks: Wir sind keine Erbärmlichen. Wir sind das Volk! Wir sind das Volk! Wir sind das Volk!

Chor der Getöteten: Wir sind die Toten! Wir sind die Toten! Wir sind die Toten!

Diktator: Und ich bin die Geschichte beider Völker. Ich habe die Geschichte der Überlebenden geschrieben und ich habe die Geschichte der Toten geschrieben. Ich bin die Mitte. Ich bin die ewige Mitte! Ich bin die ewige Mitte!

Der Diktator skandiert seinen Slogan weiter, ebenso der Chor des verlassenen Volks und der Chor der Getöteten. Der Vorhang senkt sich langsam.



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