Vor siebzig Jahren ermordeten SS- und Wehrmachtssoldaten wurden in der Schlucht Babij Jar mehr als 33.000 Menschen. Mittlerweile hat die Großstadt Kiew die Schlucht umschlossen. Sie ist heute ein Park.
Von Katja Petrowskaja, FAZ 29.9.
Ich habe nie verstanden, warum dieses Unglück immer das Unglück der anderen sein sollte. „Sämtliche Juden der Stadt Kiew und Umgebung haben sich am Montag, dem 29. September 1941 bis 8 Uhr Ecke der Meldnik- und Dokteriwski-Strasse (an den Friedhoefen) einzufinden…“ So hatte es die Wehrmacht plakatiert – und die Hausmeister hielten die Bücher bereit, die Polizei durchsuchte die Schulen, Krankenhäuser und Altersheime, damit wirklich „Sämtliche“ gehen. Als sie nach Babij Jar kamen, mussten sie sich ausziehen, wurden nackt durch die Reihen der Polizei getrieben, angeschrien und geschlagen – und da, wo man durch die Öffnung den Himmel sah, am Rande der Schlucht, wurden sie von beiden Seiten aus mit Maschinengewehren erschossen. Oder anders: Hunderte nackte Lebendige liegen auf nackten Leichen, erst dann wird geschossen, die Kinder wirft man einfach so auf die Leichen, um sie lebendig zu begraben, das spart Munition. (…)
Die „Literaturnaja Gaseta“ veröffentlichte ein Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko: „Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal. / Ein schroffer Hang – der eine unbehauene Grabstein. / Mir ist angst. / Ich bin alt heute, / so alt wie das jüdische Volk. / Ich glaube, ich bin jetzt / ein Jude.“ Meine Mutter erzählt, wie die Menschen einander anriefen. „Wir weinten vor Glück darüber, dass man über das Unglück nun endlich öffentlich sprach.“ Ein russischer Dichter hatte die jüdischen Opfer auf sich genommen, sie alle. Es ging bei ihm nicht mehr um „ihre“ Toten – und das stand jetzt gedruckt in einer sowjetischen Zeitung: „Jeder hier erschossene Greis -: ich. Jedes hier erschossene Kind -: ich.“ Innerhalb eines Monats wurde das Gedicht in 70 Sprachen übersetzt (ins Deutsche von Paul Celan). Nun war dieses Weltunglück nicht mehr obdachlos. Vielleicht deswegen bot Pier Paolo Pasolini für seinen Film „Das Matthäus-Evangelium“ Jewtuschenko die Rolle des Jesus an. Dimitrij Schostakowitsch vertonte Jewtuschenkos Gedicht im Adagio seiner 13. Symphonie. Es schien, als wäre die Ehre der Erinnerung wiederhergestellt worden.