In fast allen Gedichten ist das langsame, manchmal fast somnambule Gehen der Ausgangspunkt von Erkundungen, die eine sinnliche Aneignung des jeweiligen Landstrichs anstreben. Die Erkundungsgänge folgen dabei mehr der Struktur dunkler Phantasmagorien und Traumreisen als romantischen Landschafts-Imaginationen. Es sind emphatische Wahrnehmungszustände und überwältigende Offenbarungs-Augenblicke, in denen sich das Ich durch seine Suchbewegung ein neues Koordinatensystem der Erfahrung erarbeitet und die Welt sich dann in neuem Licht zeigt. Die strenge Kompositionstechnik Lutz Seilers, seine Engführung der Metaphern und die dichte Verfugung der Bilder und Assoziationen, verlangt viel Aufmerksamkeit vom Leser. Die fliessende Bewegung der Verse wird mitunter von schroff gesetzten Brüchen und Zeilensprüngen verlangsamt.
Mitunter scheinen diese hochmusikalisch strukturierten Gedichte die Aufgabe des von Seiler zitierten alten griechischen Orakels in Dodona zu übernehmen, das einst aus dem Rauschen der Bäume die Zukunft weissagte. Die Geschichtsversessenheit des Autors, in dessen Gedichte auch die Stimmen der Toten flüstern, wirkt ansteckend. Die poetischen Tiefbohrungen «im satzbau dieser gegend» erzeugen einen geheimnisvollen Sog, wie er nur substanzieller Poesie eigen ist: «von / eckstein zu eckstein springt / die spreu deines schattens. Linien, auf denen / die stimmen der toten telefonieren. Wenn du / das nachsehen hast, atmen sie dir direkt / ins gesicht: untermieter, hausbuchführer, aranka, die / aus den kniekehlen gesungen hat . . . auch / deine eignen knochen musst du weiter denken, kommata / im satzbau dieser gegend.» / Michael Braun, NZZ 4.10.
Lutz Seiler: im felderlatein. Gedichte. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2010. 100 S., Fr. 23.50.