107. Das Ungeahnte

Im Freitag bespricht Thomas Wagner das Zeit-Projekt politische Lyrik und kritisiert es zu Recht:

Nun wäre nichts dagegen einzuwenden, wenn eine auflagenstarke Zeitung ein weithin wahrnehmbares Forum für politische Lyrik schüfe, so wie man es begrüßen konnte, als der Deutschlandfunk sein „Gedicht des Tages“ einführte. Was stutzig macht, ist jedoch die Art und Weise, mit der die Zeit-Redakteure ihr Projekt begründen. Sie gehen davon aus, dass es das politische Gedicht eigentlich gar nicht mehr gibt. „Das ideologische Zeitalter ist vorbei, Gedichte mit parteipolitischer, gar agitatorischer Absicht sind passé“, behaupten die Journalisten.

Das klingt zunächst plausibel. Für ein nennenswertes parteigebundenes Engagement der Dichter fehlt heute tatsächlich die Grundlage.

Aber das bedeutet doch nicht, dass die politische Lyrik verschwunden ist. So erschien 2009 im Rotbuch-Verlag eine Sammlung mit neuen politischen Gedichten, die das genaue Gegenteil belegt. Gerade jüngere Lyrikerinnen und Lyriker hätten sich in den letzten Jahren verstärkt Themen wie Globalisierung oder Ausbeutung angenommen, schreibt Tom Schulz, der Herausgeber der Anthologie alles außer tiernahrung. Und die Art und Weise, wie sich der shooting-star der Szene Björn Kuhligk dem brutalen Grenzregime der EU nähert, ist zwar keineswegs agitatorisch, politisch sind seine poetischen Zugriffe auf die komplexe Wirklichkeit aber allemal. Ganz zu schweigen an dieser Stelle von den vielen Hip-Hop-Künstlern und Mundart-Dichtern, die auf zahlreichen Demonstrationen der vergangenen Jahre – zuletzt in Stuttgart – eine manchmal auch literarisch überzeugende Alternative zum oft eher drögen Agitationsjargon vieler Redefunktionäre boten. Und last but not least hat die Affäre Guttenberg gezeigt, wie twitter eine gewaltige poetische Energie zu entfesseln vermag.

Von solchen Einsichten ist die Zeit aber weit entfernt. Es fehlen ja schon weitgehend die „klassischen“ linkspolitischen Schriftsteller; ein Dietmar Dath oder ein Wiglaf Droste, von einem weniger bekannten Autor wie Michael Mäde ganz zu schweigen. Nein, das Projekt „Politische Lyrik in der Zeit“ lässt nicht erkennen, dass eine substanzielle, poetische Kritik der Verhältnisse erwünscht ist. Denn statt die Lyriker hierzu zu ermutigen, köderte man sie mit dem Angebot, große Politik aus der Nähe zu erleben. Was viele ambitionierte Journalisten auf gefährliche Abwege gebracht hat, dürfte in der Lyrik vor allem Murx zeitigen.

– Ob das Fehlen von Dath, Droste und Mäde per se bedeutet, daß substanzielle poetische Kritik nicht erwünscht sei, stehe dahin. Der Autor setzt hier Liste gegen Liste, als gäbe es auch nur annähernd Konsensmöglichkeiten oder zumindest klare Kriterien für Pro und Contra. Selbst die Akzentuierung von Björn Kuhligk als „der shooting-star der Szene“ täuscht Urteil nur vor. (Ungefähr so sprechen Zeit-Rezensenten ja auch.) Sein Kriterium scheint zu sein „Ästhetische Wertschätzung durch das (bürgerliche) Feuilleton“ bei den von der Zeit ausgewählten Dichtern hier und „klassisch linkspolitische“ Autoren da. Eine vielleicht etwas einäugige Klassifizierung, die Übersicht vortäuscht, wo genaueres Hinsehen und Fragen erwünscht ist. Wenn darüber etwas gewußt werden soll, muß man die eigenen Scheuklappen in die Betrachtung einbeziehen. Eine Kartierung gegenwärtiger Lyrik und Politik müßte anders ansetzen, jenseits eigener Gewißheiten doch. Weder sind die Zeit-Autoren ein „Lager“ (poetisch gewiß nicht, und politisch? das Raster wär eh zu eng), noch sind „klassisch linkspolitische“ die einzige Alternative. Da müßte man hinsehen, finden wollen, statt nur Gewisses zu verkünden. Der Feuilleton-Kritiker gleicht darin dem Feuilleton ganz und gar. Wer darüber nicht nachdenken will, verläßt den herablassenden Blick der Feuilleton-Generalisten auf die Lyrik-Spezialisten ebensowenig wie es das Zeit-Projekt tut.

Ob die von der Zeit ausgewählten LyrikerInnen leichter oder genauso leicht wie Journalisten auf ausgelegte Köder hereinfallen, muß sich erst zeigen. Wer da „vor allem Murx“ erwartet, tut uns ja leid.

Und als gäb es sonst keinen Murx auf den großen Blättern, oder Bühnen. Als wären die großgeplanten Problemlösungen der wirtschaftlichen, sozialen, außenpolitischen oder technologischen … Probleme zwischen Hartz 4 und Moratorium anderes als bestenfalls Murx. Oder schlimmstenfalls Mafia. Als würden sich die Journalisten oder wenigstens Kulturkritiker da murxfrei wacker schlagen. Hah, was müssen wir jeden Tag hören oder lesen!

Neinnein, ruf ich, nein! Und zitiere, wenn sogar schon die Zeit auf dem Titelblatt der vorigen Woche mit einer Herbst-89-Wendelosung aufmacht, déjavue: „KEINE LÜGEN MEHR!“, ein paar Zeilen von Volker Braun, der vor und nach der „Wende“ klarsichtige politische Lyrik schrieb, lechts und rinks wär da zu eng:

Das fein Geplante
Ist doch zum Schrein.
Das Ungeahnte
Tritt eisern ein.

(Aus: Gemischter Chor. In Volker Braun, Langsamer knirschender Morgen, Halle-Leipzig 1987, S. 7)

Das Ungeahnte, Unsichtbare  kommt, ist vielleicht schon da. Erst mal freu ich mich auf ungeahnte Gedichte Woche für Woche in der sicheren Erwartung, daß auf dieser Seite nicht allemal der Murx der Woche stehn wird. Ob eisern oder welchen Materials immer.



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