In vielen Buchhandlungen schmücken sie gesammelt die Tische: die Romane der Autoren, welche am 23.08. für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2016 nominiert wurden. Noch sind nicht alle Bücher erschienen und längst ist nicht Alles gelesen. Doch erste Eindrücke gibt es bereits. Ich fand spannend, wie so die ersten Lese-Erfahrungen sind und habe diese Frage mal uns sechs Buchpreisbloggern gestellt …
Gérard von sounds & books:
Nachdem ich die Romane Am Rand von Hans Platzgumer und Verteidigung des Paradieses von Thomas von Steinaecker bereits vor der Bekanntgabe der Longlist las und rezensierte, ist zehn Tage später mit Apollokalypse von Gerhard Falkner eine große Herausforderung geschafft, die mich schlicht und ergreifend umgehauen hat und von der ich mich eigentlich erholen sollte. Doch die Zeit drängt, fünf weitere Romane stehen auf meiner Leseliste und der Wechsel zur vergleichsweise betulichen, indes überaus charmanten Sprache Bodo Kirchhoffs in Widerfahrnis war zunächst einmal eine gewöhnungsbedürftige. Die Freude, einige weitere Titel der Longlist zu lesen und zu besprechen hält an.
Jochen von lustauflesen.de:
Strenggenommen lese ich erst seit fünf Tagen. Eine erlebnisreiche Reise durch »Flandern & die Niederlande«, dem diesjährigen Ehrengastland der Frankfurter Buchmesse, hat mich aufgehalten. Meine erste Reaktion auf die Longlist war: oh, sehr viel Midlife Crisis und Middle Class Tristesse, sehr viel Depression, Krankheit und verlorenes Liebesglück, sehr viel Bewegungen und Reisen. Im Mittelpunkt stehen häufig Figuren des Verlustes, der Einsamkeit und des Leerlaufs. Ist das das literarische Bild unserer Gesellschaft? — Nun, sei es wie es sei. Das Heftchen mit den Leseproben habe ich mir vorgenommen, um ausschnittsweise dem Klang aller 20 Romane kurz zu lauschen, ein Gefühl für 20 Rhythmen und 20 Erzählhaltungen zu entwickeln. Wirklich überraschen konnte mich auf Anhieb wenig, enttäuscht hat mich aber auch nichts. — Thomas Melles Protokoll seiner bipolaren Störung fesselt mich derzeit, ein im wahrsten Sinne des Wortes manisches und depressives Buch, authentisch, brutal und dabei auch durchaus komisch. Darf man das so sagen? Ich denke, ja!. Kirchhoff und Leupold werden mich als Urlaubslektüre begleiten. Dann kommt Falkner, auf den ich besonders gespannt bin, weil die Urteile über Apollokalypse entweder himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt ausfallen. Solche polarisierenden Titel mag ich. — Kein Schriftsteller mit Migrationshintergrund ist unter den Nominierten, sieht man vom gebürtigen Ungarn Akos Duma ab. Das hat mich schon enttäuscht. Die Diskussion über das Verhältnis der Geschlechter, 6 Frauen und 14 Männer, soll an dieser Stelle nicht erneut befeuert werden.
Tobias von buchrevier:
Ich habe einige Tage gebraucht, um mich von meiner Wunsch-Longlist auf die Tatsächliche umzupolen. Mit Kirchhoff und Melle hatte ich gerechnet, alles andere kam völlig überraschend. Gelesen hatte ich zum Zeitpunkt der Bekanntgabe noch keinen der 20 Titel. Mittlerweile bin mit Bodo Kirchhoffs Widerfahrnis durch und kann schon mal sagen, dass dieser Titel für mich kein Shortlist-Kandidat ist. Mitte der Woche kam dann auch das Paket mit den bestellten Longlist-Titeln: Ich hatte mir Thomas Melle, Arnold Stadler, Hans Platzgumer und Michael Kumpfmüller ausgesucht. Auch der Roman des Österreichers Reinhard Kaiser-Mühlecker interessiert mich sehr. Genauso wie André Kubiczek, Peter Stamm und Philipp Winkler. Für die Titel der sechs Frauen auf der Longlist konnte ich mich spontan bisher noch gar nicht erwärmen. Aber ich werde mir in den kommenden Tagen mal die Longlist Leseproben genauer ansehen und bin gespannt, ob da auch noch etwas Preisverdächtiges entdecke.
Sophie von Literaturen:
Meine erste Woche glich einer so besinnungslosen wie hochkonzentrierten Orgie zwischen Buchseiten. Erst Hans Platzgumer, dann Anna Weidenholzer, dann Katja Lange-Müller, zuletzt Thomas Melle, der mich mit seinen Schilderungen tief bewegt und gleichzeitig elektrisiert hat. Ein wahnsinniges Buch, tragischerweise im wahrsten Sinne des Wortes; aber trotzdem keine ermüdende Nabelschau, sondern ein Dokument von beeindruckender Tiefe und Echtheit. Mit Anna Weidenholzer tat ich mich zunächst schwer, habe aber diese leise Melancholie und den Witz, der aus einem gewissen Fatalismus entsteht, im Laufe der Lektüre zu schätzen gelernt. Googelte danach sofort den Glücksfragebogen aus Bhutan und hörte mir wegen des Buches ein Lied von Hansi Hinterseer an. Über Katja Lange-Müllers Roman muss ich noch etwas brüten. Bisher ist kein Titel dabei gewesen, dessen Berechtigung auf der Longlist ich energisch in Frage stellen müsste.
Herbert von Herbert liest!:
So richtig hat mich das Longlist-Lesefieber noch nicht gepackt, denn ich konnte erst zwei Bücher der Liste – von Peter Stamm und Reinhard Kaiser- Mühlecker – lesen, da die anderen Rezensionsexemplare noch auf dem Weg in mein Urlaubshotel sind. Eines ist aber jetzt schon ganz toll: In Stamms Buch Weit über das Land wandert der Ausreißer Thomas durchs Schweizer Gebirge. Die Naturbeschreibungen dort sind herrlich synchron zu meinen Wander-Erfahrungen gerade in Südtirol. Lese- und Wandererlebnisse gehen so ineinander über … großartig.
Jacqueline von masuko13:
Mit Kirchhoffs Widerfahrnis hatte ich einen wundervollen Einstieg in die Longlist. Gefolgt von Kaiser-Mühleckers Fremde Seele, dunkler Wald. Beide Romane zeichnet eine besondere Sprache aus. Während Kirchhoff eine späte Liebesgeschichte zweier Menschen erzählt, die spontan nach Italien reisen, kreist Kaiser-Mühleckers Geschichte um eine kleine Familie in Österreich. Richtig spannend und auch sprachlich mal ganz anders finde ich Hool. Ein wütendes Buch, von welchem ich bisher nur die ersten Seiten zur Einstimmung gelesen habe. Auch von Lewitscharoffs Pfingstwunder kenne ich bisher nur die ersten Seiten auf meinem eReader. Ich-Erzähler Gottlieb hat einen wunderbar zynischen Ton, der mich auf Anhieb fasziniert.
Und dann kam vor wenigen Tagen in einem Päckchen Der Weg der Wünsche von Akos Goma. Der Autor ist in Budapest geboren , lebt und arbeitet als Übersetzer in Eichstätt. Er erzählt in seinem Debüt eine Fluchtgeschichte aus Ungarn und ist bedauerlicherweise der einzige Autor auf der Longlist mit einem Roman zum Thema Heimatlosigkeit und Migration. Auch mir fehlen hier wenigstens zwei oder drei Autoren mit einer solchen Thematik. Da muss ich mich Jochens Meinung einfach anschließen. Und was ich auch vermisse, das sind mehr weibliche Autoren.
Und weil ich Sophies Statement so gut finde, schließe ich mich dem an, dass auch ich bisher keinen Autoren gefunden habe, „dessen Berechtigung auf der Longlist ich energisch in Frage stellen müsste.“ Wir lesen weiter und werden darüber reden.