Prägende Kindheitserinnerungen ans Lesen und Vorlesen
Ich kann mich so gut erinnern, als wäre es gestern gewesen: Als Kind liebte ich es, mit meiner Mutter zusammen Tierbücher anzuschauen. Sie las die Namen vor und ich tippte auf das entsprechende Tier. Welche Freude, wenn ich es richtig machte! Beide klatschten wir dann fröhlich in die Hände, während meine Mutter mir „bravissima“ zujubelte. Doch die bleibendste Erinnerung ans Vorlesen und Lesen habe ich an meinen Onkel. Er war Lehrer, wohnte eine Zeit lang bei uns zu Hause, und er war es, der mir anhand von «Topolino», der italienischen Version des Donald Duck Comics, das Lesen in stundenlangen, witzigen Rollenspielen lehrte. Dieser emotionale Zugang zur Welt der Bücher legte den Grundstein für meine Leidenschaft fürs Lesen, die ich später meinen eigenen Kindern weiter geben konnte. Über zehn Jahre lang habe ich meinen Jungs Abend für Abend Geschichten vorgelesen. Die Welt der Bücher hat nicht nur sie beide, sondern die ganze Familie positiv beeinflusst.
Vor dem eigentlichen Lesen kommt bei Kindern das Anschauen und Antasten von BüchernBüechli aalange und aaluege
Geprägt von meinen eigenen Kindheitserinnerungen habe ich das schöne Ritual des Vorlesens in meiner Familie weiter gepflegt. Ich habe sogar noch früher mit dem „Lesen“ angefangen: Von ganz klein auf habe ich mit meinen Buben sensorische Bücher angeschaut. Durch Greifen der knisternden oder flauschigen Materialien haben sie im wahrsten Sinne des Wortes begreifen können, was ich ihnen zu den Bildern erzählte. Bald einmal kamen interaktive Bücher dazu mit witzigen Elementen zum Drehen, Schieben und Aufklappen. Meine Buben liebten solche spielerischen und aktiven Ansätze, Bücher und Geschichten selber zu entdecken.
Büechli verzelle als Gute-Nacht-Ritual
Kurz darauf konnte ich bereits mit dem „richtigen“ Vorlesen – sprich: frei aus Bilderbüchern erzählen – starten. Besonders beim Schlafengehen war das tägliche Vorlesen eine willkommene Routine für meine Buben, um sie darin zu unterstützen, besser und schneller abzuschalten und sich aufs Schlafen einzustellen.
Am liebsten mochten sie Geschichten, die alltägliche, ihnen bekannte Situationen darstellten. Durch das Zuhören lernten sie rasch neue Wörter. Auch liebten sie es sehr, wenn ich meine Stimme veränderte und dazu schauspielerte. Über meine verschiedenen Intonationen und Gesten lernten sie verschiedene Gefühle kennen, die in der Geschichte vorkamen. Als sie dann selber reden konnten, band ich sie beide mit Fragen in die angeregten Erzählungen ein.
Nomal! Immer wieder dieselbe Geschichte…
Beim freien Erzählen aus Bilderbüchern, das ich übrigens lange in meiner Muttersprache Italienisch machte, musste ich jeweils wie ein Häftlimacher darauf achten, die Geschichte immer genau gleich zu erzählen. Kinder lieben Wiederholungen und haben ein ausgeprägtes Gedächtnis. Kam ich hie und da mal auch nur ansatzweise von der ursprünglichen Erzählung ab, bestanden meine Buben vehement darauf, dass ich ihnen die Geschichte gefälligst „korrekt“ erzählte!
Zweisprachigkeit als Chance und Herausforderung
Im Verlaufe der Zeit habe ich beim Vorlesen die Sprachen drei Mal angepasst: Erzählte und las ich meinen Buben anfänglich alles auf italienisch vor, wechselte ich plusminus im Kindergartenalter zu Schweizer Mundart und nachher zu Hochdeutsch. Während all den Jahren habe ich meine Fähigkeiten als „Simultanübersetzerin“ enorm weiterentwickeln können, denn ich musste sowohl bei den italienischen als auch bei den deutschen Büchern den Text laufend ins Schweizerdeutsche übersetzen. Das war nicht immer einfach, vor allem in Bezug auf die Genauigkeit, die meine Buben beim Wiederholen der Geschichten forderten. Doch ich schaffte es souverän, dass es bei uns in der Familie nie zu einer babylonischen Sprachverwirrung beim Vorlesen kam …
Kinder können herrlich mit verschiedenen Sprachen jonglieren!In wenigen Jahren vom Raschelbuch zum Schunken
Nicht nur in Bezug auf den Einsatz unserer zwei Muttersprachen habe ich mit den Buben eine spannende Entwicklung durchlebt, sondern auch im Zusammenhang mit der konstanten Veränderung der Inhalte ihrer jeweiligen Lieblingsbücher. Waren anfänglich Raschel-, Bilder- und Duftbücher gefragt, waren schon bald reich illustrierte Bilderbücher ein Thema, etwas später dann spannende Erstlese- und Wissensbücher sowie Märchen und schon bald traten dickere und anspruchsvollere Schunken in die Welt meiner Jungs genau so wie allerhand Comics als Ausgleich.
- Harry Potter…
- …. oder Greg?
Lesen – immer und überall
Plötzlich wurde nicht nur gemeinsam im Bett oder auf dem Sofa gelesen, sondern an allen erdenklichen Orten: am Familientisch, in der 5-minuten Pause in der Schule, in der Bibliothek, im Tram oder im Zug. Kein Ausflug, keine Reise, ohne mindestens ein Buch als Begleiter.
Die Gute-Nacht-Geschichte als Beziehungsanker
Eins aber blieb noch lange gleich: Auf das Ritual der allabendlichen Gute-Nacht-Geschichte wollten die Jungs nicht verzichten – und mir sollte es noch so recht sein. Nun ging es aber nicht mehr in erster Linie ums Vorlesen und Lesen an sich, denn das konnten sie beide längst selber sehr gut. Im Vordergrund stand die gemeinsame Zeit, die wir abends vor dem Einschlafen miteinander verbringen konnten, um den Tag friedlich und ruhig abzuschliessen. Man sagt, Geschichten vorgelesen zu bekommen, sei ein Geschenk – ein Geschenk, das an kein Alter gebunden ist. Und genau so sahen es meine Jungs.
Aus eigener Erfahrung kann ich nur bestätigen: Das Lesen einer Gute-Nacht-Geschichte wirkt nicht nur beruhigend, sondern stärkt das Band zwischen Kind und Eltern. Laut Experten gilt das Lesen von Gute-Nacht-Geschichten zudem als Schlüsselfaktor für eine erfolgreiche Leseförderung bei Kindern. Dabei reichen schon zehn Minuten pro Tag und es gibt – wie meine Kinder bewiesen haben – keine Altersgrenze, bis zu der Eltern ihren Kindern vorlesen können.
Familienbibliothek als Schatzkammer
Heute sind meine Jungs 12 und 14 Jahre alt. In all den Jahren ist unsere Familienbibliothek auf mehrere hunderte Buchexemplare herangewachsen. Auch wenn die Jungs viele Bücher aus der Bibliothek ausleihen, sind es immer noch viele Bücher, die wir selber kaufen – und ein Ende ist längst nicht in Sicht. Unser Bibliothek ist unsere litearische Familienschatzkammer, die mit vielen Emotionen und Erinnerungen gefüllt ist. Die Investitionen, die wir für Bücher tätigen sind enorm, der daraus resultierende Ertrag aber noch grösser!
Die Bibliothek – eine Art zweite Stube für unsere JungsDas neue Leseverhalten in der Oberstufe
Seit der Grosse letzten Sommer ins Gymnasium übergetreten ist, haben sich unsere Tagesabläufe stark verändert. Die Zubettgehzeiten haben sich nach hinten verschoben, abends bleibt kaum mehr Zeit, um noch miteinander eine Geschichte zu lesen. Die Jungs ziehen es heute vor, selber ein paar Seiten in ihren Büchern zu lesen und danach direkt einzuschlafen. Auch wenn ich in den über 10 Jahren, in denen ich meinen Buben Abend für Abend eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen habe, manchmal der Sache überdrüssig geworden war, so vermisse ich heute diese intimen Momente, die wir gemeinsam auf dem Bett sitzend geniessen konnten.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
Auch wenn die Leselust bei unseren Jungs immer noch ungebrochen gross ist und ihr Leseverhalten überwiegend auf Bücher ausgerichtet, wird die Digitalisierung auch in unserer Familie die weitere Entwicklung prägen wird. Smartphones, Tablets und EBook-Reader üben einen grossen Einfluss auf das Leseverhalten aus – ganz besonders während der Jugendzeit. Es bleibt also spannend! Doch auch wenn sich die Medien verändern werden, stehen die Chancen bei unseren Jungs sehr gut, dass die Freude am Lesen für immer erhalten bleiben wird! Frei nach dem Motto: Was Hänschen ganz früh lernt, verlernt Hans nimmermehr!
Bücher tun der ganzen Familie gut
Das gemeinsame Vorlesen und Lesen hat über all die Jahre viele schönen Seiten und positive Auswirkungen sowohl auf unsere Jungs als auch auf uns Eltern gehabt: Die Kinder konnten die die Sprache auf spielerische Art und Weise erlernen und sich früh einen grossen Wortschatz anlegen. Das Lesen macht ihnen grosse Freude, fällt ihnen einfach und wirkt sich auch positiv auf ihr Schreiben aus. Doch nicht nur das: Das Vorlesen und Lesen hat auch die Gesprächskultur innerhalb unserer Familie gefördert und uns als Familie zusammen geschweisst. Die Welt der Bücher hat uns alle äusserst positiv beeinflusst!
Wie sieht es bei euch aus? Wie hat sich euer Vor- und Leseverhalten bzw. dasjenige eurer Kinder über die Jahre hinweg verändert? Worin erkennt ihr euch in unseren Schilderungen wieder? Was ist bei auch anders?
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Als Schweizer Familienblog setzen wir uns für den Schweizer Vorlesetag ein – eine Initiative des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien SIKJM. Bis zum Vorlesetag am 27. Mai 2020 gibt es jeden Montag einen Blogbeitrag rund um das Thema Vorlesen. Mal berührend. Mal lustig. Mal informativ. Die Übersicht über alle teilnehmenden Blogs und deren Themen findet ihr auf der Webseite Schweizer Vorlesetag.