Der US-amerikanische Kinderärzteverband hatte (für Beobachter der Beschneidungsentwicklung) überraschend die Behauptung aufgestellt, dass es zwar bei der Beschneidung neugeborener Knaben Risiken gäbe, insgesamt jedoch die gesundheitlichen Vorteile überwögen.
Die AAP bezeichnete Beschneidungen als medizinisch sinnvoll. Diese Aussage stellte ein vehementes Plädoyer für die Weiterführung von Beschneidungen dar, nachdem zunehmend weltweit medizinische und psychologische Einwändungen erhoben worden war. Da die AAP eine der einflussreichsten Fachgesellschaften für Kinderheilkunde ist, wurde ihre Stellungnahme als besonders gewichtig angesehen.
Jetzt hat sich, wie die ZEIT am Montag dieser Woche gemeldet hat, herausgestellt, dass der AAP bereits Anfang September 2012 eine Studie von 38 renommierten Sexualmedizinern aus 17 Nationen vorgelegen hat, in der die AAP-Behauptungen wissenschaftlich kritisiert und widerlegt worden sind. Die AAP hat diese Gegenstudie allerdings seinerzeit unterdrückt und erst jetzt in der verbandseigenen Zeitschrift veröffentlicht.
In dieser Gegenstudie, die fehderführend vom Sexualmediziner Morten Frisch vom Statens Serum Institut in Kopenhagen verantwortet wird, werden die Behauptungen der AAP widerlegt. Zeit-online zitiert Volker von Löwenig (Sprecher der Ethikkommission Deutschen Akademie Kinder- und Jugendmedizin) mit der Bemerkung: „Die AAP zitiert selektiv Publikationen, die sich für eine ‘prophylaktische’ Beschneidung aussprechen und unterdrückt andere, die dagegen sprechen.“
In einer Stellungnahme ebenfalls vom Montag weist der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V. (BVKJ) auf die umstrittene Studie und die Gegenstudie hin mit dem Hinweis, dass „die europäischen Pädiater [festgestellt hätten], dass die prophylaktische Beschneidung keinen überzeugenden gesundheitlichen Nutzen hat. Sie könne jedoch langfristige Nachteile haben, besonders im urologischen, psychologischen und sexuellen Bereich.“
Der BVKJ bezeichnet die Beschneidung als eine Verletzung der Kinderrechts-Charta der Vereinten Nationen. „Sie widerspreche“, so heißt es in der Erklärung weiter, „dem ärztlichen Grundprinzip: nil nocere, dem Patienten keinen Schaden zuzufügen. Ärzte und Ärzteorganisationen sollten daher die Eltern von ihrem Vorhaben abbringen, ihre gesunden Knaben beschneiden zu lassen.“
Hintergrund ist der AAP-Studie ist offenbar, wie sich jetzt zu bestätigen scheint und schon im Herbst 2012 schon als Vermutung geäußert wurde, dass sich AAP in einem Interessenkonflikt befunden hat, da die in diesem Verband vertretenen Kinderärzte pro Jahr in den USA etwa 1 Million Jungen beschneiden, was ihnen jährlich einen Umsatz von mehreren Millionen US-Dollar beschert.
In Deutschland war im Herbst 2012 die Studie der AAP auch von Beschneidungsgegnern kritisiert worden. Auf seiner Website hatte seinerzeit der Arbeitskreis Kinderrechte der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) bezüglich der Studie auf mögliche ökonomische Aspekte als Hintergrund des Studienergebnisses hingewiesen und schwerwiegende wissenschaftliche Mängel moniert.
In der Begründung des Referentenentwurfs des Bundesministeriums der Justiz zum Entwurf eines Beschneidungsgesetzes (welches dann am 12.12.2012 vom Bundestag mehrheitlich beschlossen worden ist) wird auf Seite 7 auf diese US-amerikanische Studie Bezug genommen und diese gewissermaßen als Beleg dafür gewertet, dass die gesundheitlichen Vorteile beschnittener Neugeborener schwerer wögen als die Risiken.
Auf diesen Gesichtspunkt haben sich die Befürworter einer Beschneidungslegalisierung im Bundestag gestützt, da sie – bei aller Dürftigkeit ihres Vorbringens – stets den Eindruck erwecken wollten, sie würden die Belange der Knaben berücksichtigen und an deren Wohl interessiert sein.
Fakt ist jedenfalls, dass AAP mit wissenschaftlich unzutreffenden Aussagen operiert und ihr vorliegendes Material weltweit renommierter Fachleute unterdrückt hat.
Damit ist die Debatte in Deutschland massiv einseitig beeinflusst worden.
Ökonomische Interessen von Kinderärzten in den USA und eine Ideologie, die vom männlichen Kind die Opferung seiner Penisvorhaut verlangt, haben eine unselige Allianz gebildet – zu Lasten der Knaben und zu Lasten von deren Menschenrechten.
Die Beschneidungsbefürworter im deutschen Bundestag müssen sich – ein weiteres Mal – vorhalten lassen, dass sie sich nicht sorgfältig genug mit der Thematik beschäftigt haben. Sie wollten das Thema schlichtweg – koste es, was es wolle – vom Tisch haben. Auf der Strecke geblieben sind dabei, wie bereits im Herbst 2012 deutlich geworden ist, die Belange der betroffenen Knaben.
Die Bundestagsabgeordneten sind zudem von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Leider steht nicht zu erwarten, dass dies jetzt für sie Anlass ist, die Beschneidungslegalisierung wieder rückgängig zu machen.
Walter Otte
[Erstveröffentlichung: hpd]