Die herrliche Fabulierkunst Carmine Abates, 1951 im nordkalabresischen Carfizzi geboren und in Deutschland aufgewachsen, begleitete mich durch die Juniwoche in Kalabrien. Ein wundervoller Roman, leicht und kenntnisreich verwoben zugleich, voller Schönheit ohne zu beschönigen, was die Geschichte Kalabriens an Kargheit, Gewalt und Starrsinn aufweist. Das Buch liegt im Auto, während ich Pizzo ansteuere, eine Empfehlung meiner wunderbaren, familiär verhinderten Gastgeberin. Pizzo zeigt Felicitas gerne ihren Gästen, eine romantisch verwinkelte Altstadt mit einer berühmten Grottenkirche. Ich fühle mich ohne die wissende Freundin etwas verloren hier, denn auch das Wetter lässt mich im Stich. Während ich den Himmel über den Dächern von Pizzo noch im trügerischen Blau einfangen kann, empfängt mich die kleine Stadt einige Kurven später mit ersten Regentropfen. Ein Sonntag im Juni, Langeweile und der Wunsch nach Betriebsamkeit liegen nah beieinander, junge Männer fahren hupend durch die engen Gassen. Und ich fühle mich im großen Kombi unbeweglich in dieser Testesteronitis, gilt vielleicht jedes Gehupe mir, die den jungmännlichen corso empfindlich ausbremst?
Ich verlasse Pizzo und schlage mich, ganz inspiriert von Carmine Abates Angaben, nach Osten in die Hügel. Abate hält sich mit genauen Ortsangaben zurück, doch der Ort Pizzo wird zunächst gestreift, und auf seiner Höhe ist die kalabresische Landzunge am schmalsten. So verspreche ich mir, eine Hügelkette zu finden, von der aus ich tatsächlich beide Meere sehe. Was mir nicht gelingt, soviel sei gleich verraten, auch wenn es den Ort, der berühmt für seine doppelte Meeressicht ist, tatsächlich gibt. Er heißt Tirilio und liegt noch ein Stück nördlicher, Richtung Catanzaro. Ich hätte es wissen können, hätte ich bis dahin meinen zweiten Wegbegleiter, den Kunstreiseführer Kalabrien und Basilikata von Ekkehart Rotter schon hierzu befragt. Ein wunderbares Buch über Kalabrien, das mich meine Skepsis gegenüber vermeintlich trockenen Kulturführern unbedingt verabschieden lässt. Reich an Geschichten über Land und Leute, voller poetischer Zitate und detailreicher Beschreibungen und natürlich auch diesem unabdingbaren Ratschlag: „Fernblickgenießer müssen von Catanzaro unbedingt hinauffahren ins 19 km entfernte, 700 m hoch gelegene Städtchen Tirilio, [...] das schon seit der Antike wegen der Möglichkeit anzieht, von hier das Mittelmeer zu beiden Seiten des Stiefels zu sehen ..." Auch wenn die Stiefelspitze bei Tirilio nicht ganz so schmal ist wie weiter südlich, so macht es wohl die erhabene Höhe von 700 m aus...
Das weiß ich alles erst später, noch bin ich optimistisch, während ich das Auto in die Hügel lenke, einzig einen Ort namens Filadelfia ausgeschildert als Orientierung. Ich muss denken an „La Merika", wie die Kalabresen bei Abate die gelobte und gefürchtete Ferne nennen, in die so mancher von ihnen auf der Suche nach einem besseren Leben zog. (Und viele von ihnen, schreibt mir Felicitas dieser Tage, kehren zu ferragosto, rund um den 15. August, für mindestens ein paar Tage nach Kalabrien zurück aus La Merika...). Es wird für mich eine Tour de Force an diesem Tag, denn dieses Filadelfia ist umgeben von immer unbevölkerterem Land, immer abenteuerlicheren Straßen, die irgendwann diese Bezeichnung gar nicht mehr verdienen. Irgendwo im Nirgendwo umgestürzte Müllcontainer, ohne dass weit und breit eine Menschensiedlung zu ahnen ist. Hügel, Schlammwege, Einsamkeiten, großartige Ausblicke und dann ... Gewitterblitze. Herrlich groß und leuchtend. Im Nachhinein wird mir erst klar, wie tollkühn mein automobiles Unterfangen in jenem fast unwegsamen Gelände war, nachdem ich - zu Glück in wesentlich weniger einsamem Gebiet - eine Panne hatte. Hier, wo es imposant blitzt und herrschaftlich donnert in vulkanische Verlassenheit hinein, gibt es vielleicht noch nicht mal handy-Empfang. Ich finde wieder heraus, wie ich hineinkam - und beschließe für diesen Tag ein kleines kalabresisches Abenteuer.
Es wird mir auf dieser ersten Kalabrienreise nicht mehr gelingen, beide Meere gemeinsam im Blick zu vereinen.
Auch die Grottenkirche von Pizzo bleibt für spätere Besuche auf dem Programm. Ich lese dann auch, dass hier Joachim Murat bestattet ist, der wahrhaft glücklose Schwager Napoleons, über den Ekkehart Rotter ausführlich berichtet.
Anderntags jedoch werde ich das Ionische Meer tatsächlich sehen. Ich fahre von aus die herrliche Steilküste auf „unserer", der tyrrhenischen Seite lang, dann via Rosarno und dieses Mal auf gut ausgebauten Straßen quer durchs Land. Bei Marina di Gioiosa Ionica bin ich an der dem Ort den Namen gebenden Ionischen Küste angelangt. Zunächst reihen sich die Küste entlang Städtchen mit Straßencafés und einem gewissen Alltagsleben. Weniger pittorsek als in und rund um Tropea, hier wirkt es einfach bodenständig, süditalienisch leger ohne jeglichen Pomp. Und verlassener, immer verlassener, bis ich etwas nördlich in Riace Marina ankomme, wo eine Pause fällig ist an einem Strand, so weißschimmernd, nur für mich.
Ja, die Ionische Küste ist so ganz anders als die Tyrrhenische ... und es wiederholt sich, was der Stiefel von Norden her als Differenz seiner Meeresufer kennt. Von Ligurien über Amalfi bis weit in den Süden nach Tropea produziert die westliche Küste jene Postkartenbilder mit steilen, oft bizarren Formationen aus Stein und einem Blick in die plötzliche Tiefe aufs Meer. Die Ionische Küste hingegen liegt an einem Strand, der an der Ostsee beheimatet sein könnte, strahlte nicht die gleißende Sonne des Südens auf ihn - und wäre es nicht so leer, wie an der Ostsee höchstens an einem sehr, sehr unwirtlichen Tag im Winter. Touristisch so unerschlossen, dass es nur wundert, schön ist es doch, auch hier. Ein heißer Tipp für Italiensüchtige mit Ruhewunsch?
Meine Fahrt wird mich weiterführen nach Riace, droben auf dem Hügel, das ich unbedingt sehen will, ein Ort, der so sehr unter der für Kalabrien - und besonders den Ionischen Teil - typischen Landflucht litt. Der trotz bemerkenswerter Geschichte verlassen auf dem Hügel mit weitem Blick lag, bis der Bürgermeister hier ein europaweit beachtetes Flüchtlingsprojekt ansiedelte. Ein Projekt, das dieser Tage bedroht wird von absurder Bürokratie und vielleicht auch Missgunst, aus Gründen, die ich nur ahnen kann.
Doch dieser Besuch von Riace braucht einen eigenen Artikel. Und so lange wie dieses Mal wird es nicht dauern, bis zum nächsten Bericht. Eine deutsche Hitzeperiode ließ mich lange vom Schreibtisch Abstand nehmen. Eine Hitzeperiode, in der schon ein Meer entscheidend geholfen hätte. Kalabrien blieb in deutlicher Erinnerung, das Land zwischen zweien...
Carmine Abate: Zwischen zwei Meeren (Ital.: Tra due mari), Berlin 2014: Aufbau Verlag.
In eine deutsch-italienische Familensaga mit Witz und Eigenwilligkeit verwebt der Autor historisches Personal - von den Briganten bis zum Reisenden Alexandre Dumas, einem der wenigen, die sich tatsächlich in früheren Jahrhunderten nach Kalabrien wagten.
Wessen Interesse am inspirierenden Stoff geweckt ist, greift zu:
Alexandre Dumas: Reisebilder aus Sicilien und Kalabrien. 2010: Nabu Press.
Ich brauchte keinen Hotel- und Reiseführer, ich hatte meine Expertin von AlSud! zur Hand. Eine kenntnisreiche Einführung fand in die Geschichte und Geschichten Kalabriens fand ich auf deren Empfehlung - und wurde restlos überzeugt von: