Oft entscheide ich nach einem kurzen Blick auf den Anfang eines Romans – will ich das sofort lesen oder versuche ich es später erneut. Bei Lisa Halliday war klar: Lesen! Jetzt! Allein das coole Cover mit der zersplitterten Ansicht von New York fasziniert mich. Schließlich packt die Geschichte um die 25-jährige New Yorker Lektorin Alice und den viel älteren Autor Ezra Blazer mich mit den ersten Sätzen:
Alice wurde es langsam leid, so allein herumzusitzen und nichts zu tun zu haben: Immer wieder mal warf sie einen Blick in das Buch auf ihrem Schoß, doch es waren fast nur lange Absätze und keinerlei Anführungszeichen darin, und was lässt sich schon mit einem Buch anfangen, dachte Alice, in dem es keine Anführungszeichen gibt?
Daher überlegte sie gerade (so gut es eben ging, denn es war nicht ihre Stärke, Dinge zu Ende zu bringen), ob sie wohl eines Tages selbst ein Buch schreiben sollte … (Seite 11).
Ihre Gedanken werden unterbrochen, als ein Mann mit Eiswaffel auf sie zu tritt und ein Gespräch mit Alice beginnt. Es ist der bekannte amerikanische Autor Ezra Blazer. Er ist 72 Jahre alt. Doch beeindruckt er Alice auf eine Weise, dass sie sich schnell auf eine Beziehung mit ihm einlässt. Fasziniert von seinem brillanten Geist, akzeptiert sie seinen kaputten alten Körper und die riesige Menge verschiedenster Tabletten, die er einnimmt. Ezra ist es, der bestimmt, wann sie Sex haben oder einfach nur beieinander liegen … Doch er ist es auch, der Geld hat und Ansehen und der in einer Luxuswohnung lebt.
Alice selbst lebt in einer kleinen Dachgeschoßwohnung eines Brownstonehauses. Hier liest sie im muffigen Luftstrom einer alten Klimaanlage Romane von Albert Camus, Mark Twain, Jean Genet – Bücher, welche der erfahrene Ezra ihr in die Hand drückt, bevor er zum Schreiben auf seine kleine Insel fährt. Beide führen ein relativ sorgloses Leben in ihrer privilegierten “weißen” Welt. Und während sie ihre Beziehung sehr genießen und nur ganz selten mal ein kleines Luxusproblem lösen müssen, tobt auf der anderen Seite des Ozeans der Irakkrieg. In einer Szene sitzen Ezra und Alice im Jahr 2003 vor dem Fernseher, als der Präsident der Vereinigten Staaten den Einmarsch in den Irak ankündigt. Alice findet den Präsidenten dumm. Ezra futtert stumm seine Tarte weiter.
Im zweiten Teil des Buches erzählt Lisa Halliday aus der Ich-Perspektive des irakischen Amerikaners Amar im Jahr 2008. Er hat einen Doktortitel, lebt und arbeitet als Wissenschaftler in den USA. Über London will er kurzzeitig in den Irak reisen, um seinen Bruder zu besuchen. Trotz seines amerikanischen Passes wird Amar im Flughafen Heathrow durch ein System von Verhören und Schikanen geschleust, ohne dass er diese Situation verlassen kann. Einfach weil er wie ein Terrorist aussieht und keinen typisch amerikanischen Namen hat. In den stillen einsamen Stunden gehen Amars Gedanken zurück in den Irak, zu seiner Familie. Erinnerungen an den Krieg tauchen auf – ein Mix aus real erlebten und erzählten Situationen.
Der dritte Teil beschreibt dann ein Interview (2011) mit dem berühmten Nobelpreisträger Ezra Blazer. Neben diversen anderen Frauen kommt in diesem Gespräch auch Alice kurz vor, lediglich jedoch als Erinnerung an eine junge Autorin, die mal einen ganz erstaunlichen Roman über die Grenzen von Herkunft und Privilegiertheit geschrieben hätte. Mehr hat Ezra zu ihr nicht zu sagen, während er unübersehbar mit der Moderatorin flirtet. Alle drei Teile enden relativ offen.
Asymmetrie ist für mich ein Buch, das vorerst mehr Fragen aufwirft, als es Antworten gibt, das aber genau deshalb lange nachhallt. Geschickt spielt Halliday mit den Kategorien Wahrheit und Fiktion. Wer sind wir und wie sehen uns die anderen? Ist es möglich, die Grenzen von Herkunft und Zugehörigkeit zu überschreiten? Kann uns ein „Blick hinter die Spiegel“ gelingen? Wie unterscheidet man echte von erzählten Erinnerungen?
In meinem Gedächtnis werden Alice und Ezra ganz sicher einen prominenten Platz haben. Viel zu schnell nämlich vergesse ich oft Namen von Figuren aus Romanen, welche ich wirklich mochte … Asymmetrie wird bleiben. Ezra und Alice werden bleiben.
Lisa Halliday. Asymmetrie. Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs. Carl Hanser Verlag. München 2018. 316 Seiten. 23,- €