Von Stefan Sasse
In "Zwischen Markenkernen und Zeitgeistern" habe ich die spezifischen Erfolgskriterien einer konservativen Partei und ihrer programmatischen Geschmeidigkeit untersucht. Heute will ich versuchen darzustellen, warum sich linke oder progressive Parteien häufig so schwer tun, etwas gegen diese Erfolgskriterien auszurichten und selbst in den Hochzeiten der linken Volksparteien tendenziell gegenüber den Konservativen im Nachteil waren. Der Unterschied im Verhalten des Elektorats lässt sich plakativ an der Schröder-Ära und ihren Nachwehen erkennen. Am Ende der Großen Koalition besaß die SPD noch 23% der Wählerstimmen. Zu Beginn der Ära Schröder hatte sie noch fast 40% und wurde zum zweiten Mal in ihrer Geschichte stärkste Partei. Es wäre zu einfach, Hartz-IV allein dafür verantwortlich zu machen. Hartz-IV war der Anlass, die Ursache für diesen Zusammenbruch der SPD-Wählerschaft aber ist eine andere. Sie liegt in der spezifischen Mentalität von Wählern der SPD und anderer eher progressiver Parteien, die sich in einigen Punkten fundamental von der der Konservativen unterscheidet. Es handelt sich nicht einmal so sehr um programmatische Fragen; die SPD und die CDU sind sich besonders seit den Kursänderungen der letzten Dekade in ihren Forderungen näher als je zuvor, was wohl auch die große Zahl schwarz-roter Bündnisse erklärt.
Nein, das Problem, das die SPD (und auch Grüne und LINKE plagt) ist eine weit verbreitete Mentalität des linken Lagers. Ich nenne sie die "Alles oder Nichts"-Mentalität. Es ist ein ständiges Schwanken zwischen dem Wittern von Verrat und dem Enthusiasmus des vollständigen Triumphs. Im letzten Artikel habe ich erklärt, warum Konservative so problemlos neue Positionen übernehmen können. Damit einher geht auch, dass Konservative Teilerfolge viel positiver betrachten als Progressive oder Linke das tun. Ein Programmpunkt wurde, stark verwässert und nur im Tandem mit einem ungeliebten Gegenprojekt durchgebracht? Für Konservative ein Schritt auf dem Weg. Für Progressive ist es oftmals Verrat. Wie oft hat man das schon erlebt? Einer progressiven Partei gelingt es nicht, eine ihrer Kernforderungen umzusetzen; heraus kommt stattdessen ein weicher Kompromiss (Stichwort branchenbezogene Mindestlöhne Münteferings). Oftmals erkennt man in der umsetzenden Partei dann gleich einen Erfüllungsgehilfen des politischen Gegners, milde gestimmt unabsichtlich durch die eigene Dummheit, ärgerlich gerne auch mal als trojanisches Pferd und bezahlter Maulwurf. Viele Progressive und Linke, gerade auch in meinem persönlichen Umfeld, bevorzugen die Totalopposition allzu oft gegenüber dem kleinen Teilerfolg. Es ist dieses Schwanken zwischen der scheinbaren Alternative eines totalen Triumphs, in dem die eigene Position ohne Wenn und Aber umgesetzt wird, oder der Opposition gegen die Maßnahme - gerne begleitet von der Forderung nach Volksabstimmung.
Die Ursache für die starken Verluste der SPD in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts ist hier zu suchen. Es handelt sich viel weniger um Hartz-IV per se; dass die CDU recht erfolgreich einige Verschärfungen gegen die (zugegebenermaßen nicht besonders widersträubende) SPD durchgebracht hatte spielt bis heute keine Rolle. Der größte Fehler der SPD war anzunehmen, sie könnte den Politikstil der CDU übernehmen. Denn reduziert man die beliebte Forderungen, Wahlen in "der Mitte" zu gewinnen auf ihren Kern geht es genau darum. Die SPD wollte auch die Aura von Pragmatismus und Vernunft haben, mit der die CDU ihre Politik so erfolgreich bemäntelt. Die Protagonisten dieser Politik unterschätzten jedoch die Bedürfnisse ihres eigenen Elektorats massiv. Auch hier muss man zugeben, dass die wie gleichgeschaltet agierenden Massenmedien an dieser Illusion großen Anteil hatten. Es ist heute fast vergessen, aber es war nur zwei von außen hereinbrechenden Ereignissen zu verdanken, dass die SPD die Agenda2010 überhaupt denken konnte: ohne Oderflut und Irakkrieg wäre Schröder niemals wiedergewählt worden, und ein Kanzler Stoiber hätte Westerwelles FDP 2002 in eine schwarz-gelbe Koalition geführt. Von 2000 bis zum Sommer 2002 war dieses Szenario wesentlich wahrscheinlicher als ein Wahlsieg Schröders. Bereits damals zeigten sich die Nachteile des Mitte-Gewabers, das etwa Hans Eichel beispielhaft verkörperte, der erfolglos seinen "Sparkurs" als verantwortliche und pragmatische Politik zu verkaufen suchte.
Vielleicht war die Lehre, die Schröder daraus zog, dass er es selber machen müsste. Es ist interessant, dass Merkel mit keiner unpopulären Maßnahme ihrer Regierungen direkt in Verbindung gebracht werden kann. Das politische Soll blieb immer am jeweiligen Fachminister kleben, man denke nur an Libyen. Schröder dagegen heftet sich noch heute das Agenda2010-Etikett mit Stolz an und sammelt Feinde wie andere Leute Trophäen. Viel Feind, viel Ehr! So unterschiedlich können Kanzler ticken. Die SPD überstand die Wahlen von 2002 und 2005 nur halbwegs intakt, weil sie mit Schröder über eine Rampensau verfügte, deren Qualitäten auf diesem Feld unbestritten sind. Als die SPD ihrer Politik mit Steinmeier das passende Gesicht anheftete, erkannte auch der Letzte, was die Partei geworden war. Der Spruch, dass wer das Original wolle auch gleich CDU wählen könne kommt nicht von ungefähr. Die Vorstellung, man könne der CDU auf ihrem ureigenen Feld das Wasser abgraben und sich der programmatischen Indifferenz hingeben, dem Mainstream an die Brust werfen und ein bisschen Fame und Gloire abgreifen war eine katastrophale Verkennung sowohl der Arbeitsweise der CDU als auch der Bedürfnisse der eigenen Wähler.
Auch die Grünen und die LINKE kennen dieses Problem zur Genüge. Der erste Atomausstieg war bereits von massiven Vorwürfen begleitet, man würde die Konzerne viel zu nett anfassen, und viele traten damals entrüstet aus oder kündigten den Grünen die Gefolgschaft. Auch Stuttgart21 wird für die Grünen noch eine wahre Zerreißprobe darstellen, denn Kretschmann versucht letztlich ja den gleichen Trick, nur dass er das Elektorat dafür hat. Es wird spannend bleiben zu sehen ob er damit durckommt, womit die SPD so scheiterte. Und die LINKE? Die hat den erbitterten Streit darüber, ob man auch mal einen Kompromiss mit der SPD schließen darf oder doch lieber auf die Weltrevolution hofft zu einem Markenkern gemacht und sich damit schwer in die Sackgasse manövriert. Hier findet sich die Mentalität von Verrat und Triumph am deutlichsten; das Schwanken zwischen den Extremen findet seinen deutlichsten Niederschlag in der praktischen Politik (oder dem Fehlen einer solchen).
Die Konsequenz kann für eine progressive Partei eigentlich nur sein, mit diesen Gegebenheiten zu arbeiten. Die SPD war am Stärksten, als sie eine Alternative innerhalb des Systems bot. Sie hatte hochfliegende Pläne und Visionen, entwarf eine andere Gesellschaft und versprach ihre Umsetzung. Als die Visionäre durch die Macher ersetzt wurden und der vernünftige Pragmatismus zum Leitbild avancierte, rappelte sich die CDU wieder auf und verlor die SPD Stück für Stück an Stimmen und musste schließlich sogar den Aufstieg der Grünen hilflos mit ansehen. Es ist aber wichtig, dass die Visionen und Pläne innerhalb eines gewissen Rahmens bleiben. Die gänzliche Umwälzung des Bestehenden ist des Deutschen Sache nicht. Auch darin liegt ein massives Problem für die LINKE, wenn sie über Wege zum Kommunismus nachdenkt. Diese Wege will kaum jemand mit ihr gehen. Das progressive Zentrum der Bundesrepublik ist die Sozialdemokratie, aber sie ist gerade Waise.