Zwischen Jesus und Kant

In seinem Artikel "Die Verrohung der Bürgergesellschaft" hat Stefan Pietsch einen kausalen Zusammenhang zwischen der Aufklärung, dem Rechtsstaat und Frieden in Europa auf der einen Seite und der in Europa jahrhundertelang vorherrschenden Religion des Christentums auf der anderen Seite postuliert und dafür heftige Kritik geerntet. Die Konfliktlinien liefen dabei in etwa entlang folgender Linien: Die Kritik an Pietsch war, dass christliche Nationen jahrhundertelang selbst blutige Kriege geführt und Taten begangen haben, die nach heutigen Maßstäben Menschenrechtsverletzungen und Völkermord darstellen. Die Argumentation Pietschs dagegen war, dass wenigstens seit Beginn der Aufklärung die Gewalt kontinuierlich zurückgegangen sei. Ultimativ stellt sich die Frage: ist Europa friedlich, weil es christlich ist, oder ist das eine reine Korrelation? Die Antwort darauf ist etwas komplizierter, als es Schwarz-Weiß-Muster zu zeigen in der Lage sind.
Um sich dieser Frage anzunähern, möchte ich drei größere Blickpunkte einbringen: der Rückgang der Gewalt, die Grundlagen der Aufklärung und die Entwicklung des Rechtsstaats. Ich möchte mit dem letzten Punkt beginnen.
In seinem Buch "The Origins of Political Order" über die Entstehung politischer Ordnungssysteme hat der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama die Behauptung aufgestellt, dass die Entwicklung des Rechtsstaats seine Wurzeln im Christentum habe. Er beantwortet damit gleichzeitig auch die Frage, warum muslimische, hinduistische oder buddhistische Staaten (pars pro toto) nicht dieselben rechtsstaatlichen Strukturen wie Europa entwickelt haben. Die Bedeutung dieser Strukturen ist zweierlei: einerseits regeln sie das Miteinander der Menschen und ihr Verhältnis zum Staat, so dass weniger Willkür und Gewalt herrschen. Andererseits geben sie durch die Rechtssicherheit (pacta sunt servanda) die Grundlagen für die spätere Industrielle Revolution und den beispiellosen Wohlstandsgewinn der vergangenen 200 Jahre.
Für Fukuyama haben sie ihre Ursache im spezifischen institutionellen Gewand der katholischen Kirche: ihre Entwicklung eines weitgehend parallelen politischen Systems mit eigener Rechtsprechung und der Möglichkeit, Urteile und Gesetze der weltlichen Herrscher aufzuheben, sind für ihn die Keimzelle des Rechtsstaats. Das heißt nicht, dass die katholische Kirche des Mittelalters und der Neuzeit rechtsstaatlich war; sie schuf vielmehr die Voraussetzungen, auf denen andere aufbauen konnten. Der Islam konnte dies laut Fukuyama nicht, weil ihm eine kirchliche Struktur fehlte (kein anerkanntes Oberhaupt, keine anerkannte transnationale Struktur). Für das heutige, rechtsstaatliche Europa ist daher die historische Rolle der christlichen Kirche ausschlaggebend. Fukuyama sagt aber dezidiert, dass christlich zu sein keine Voraussetzung für rechtsstaatliche Strukturen ist; es handelt sich hierbei um eine rein historische Herleitung der Entstehung dieser Strukturen. Übernehmen kann sie grundsätzlich jeder (und warum diese Übernahme so oft scheitert beschäftigt einen großen Teil seiner beiden Bücher, soll hier aber nicht Thema sein).
Der nächste Punkt ist die eigentliche Aufklärung, wie sie sich im 18. Jahrhundert vollzog. Die Aufklärer - Kant, Lessing und Konsorten - empfanden sich dezidiert als gläubige Christen und dachten aus einem Selbstverständnis des Gläubigen heraus. Die zahllosen fruchtlosen Versuche, Gottesbeweise zu schaffen, sind beredter Ausdruck hiervon. Die Kirchen aber waren zu diesem Zeitpunkt bereits im Niedergang. Die Renaissance und die Versuche der Kirche, die Deutungshoheit zu behalten, hatten eine defensive, konservativ bis reaktionäre Haltung geschaffen. Die Aufklärer fochten damit gewissermaßen einen Streit innerhalb des Glaubens aus, aber anders als Calvin, Luther und die anderen Reformatoren war ihnen nicht an der Begründung einer neuen Kirche gelegen. Vielmehr schufen sie eine Denkrichtung - die Aufklärung - die, obgleich aus dem Glauben an Gott motiviert, deutlich kosmopolitischer angelegt war. Beispielhaft lässt sich dies in Lessings Drama "Nathan der Weise" sehen, in dem die zentrale, aufklärerische Figur ein Jude ist, der Christen und Muslime gleichermaßen bekehrt und in eine einzige, große Familie vereint.
Um aufgeklärt zu sein, ist christlich zu sein also keine Voraussetzung. Umgekehrt aber ist die Aufklärung als Geistesströmung ohne das Christentum nicht vorstellbar. Wir sind heute so weit, dass wir Glaube und Vernunft voneinander trennen und den Atheismus überhaupt als theoretische Möglichkeit zulassen; davon war das 18. Jahrhundert weit entfernt. Ebenso wie der Humanismus der Renaissance ist auch die Aufklärung daher eine Geistesströmung, die aus dem Christentum entstand und sich dort verbreitete, sich von der Religion selbst aber mittlerweile emanzipiert hat. Entsprechend tiefer verankert aber ist sie natürlich in den christlichen Ländern, die die Aufklärung zugelassen haben - was nicht für alle zutrifft. Östlich von Elbe und Donau hat sie nie Halt gefunden, was bis heute sichtbar ist, trotz des dort immer noch aktiv gelebten Christentums, und auch in Südeuropa war ihr Halt deutlich fragiler. Dies liegt ohne Zweifel an den stärkeren Beharrungskräften der katholischen und orthodoxen Kirche gegenüber den protestantischen Strömungen. Die Institutionalisierung, die bei der Entstehung des Rechtsstaats noch so ein Vorteil für das Christentum war, wurde zu einem Mühlstein um den Hals, und die individualistischeren protestantischen Kirchen waren die neuen Zentren des Fortschritts.
Zuletzt müssen wir uns mit der Frage der Gewalt beschäftigen. Der Rückgang von Gewalt, das hat der Psychologe Steven Pinker eindrucksvoll aufgezeigt, ist ein weltweites, seit Jahrhunderten konstantes Phänomen, das aber - erneut - mit der Aufklärung besonders stark zugenommen hat. Für Pinker liegt dies vor allem an der Einhegung der Gewalt durch Kirche und Staat. Auch hier hat das Christentum eine besonders starke Rolle gespielt, weil es durch seine parallelen Strukturen und Proto-Rechtsstaatlichkeit in der Lage war, seine Verdammung von "wilder" Gewalt - also abseits der definierten Grenzen des Krieges und der Justiz - mit Nachdruck zu verfolgen. Der generelle Trend aber ist ein weltweiter und nicht exklusiv auf das Christentum begrenzt.
Es ist nützlich, sich dieser Zusammenhänge bewusst zu sein. Das Christentum bietet damit eine plausible Erklärung für den (aus westlicher Sicht) großen Erfolg Europas und Nordamerikas auf dem Feld der Sicherheit, der Freiheit und des Wohlstands im Vergleich zum Rest der Welt. Gleichzeitig zeigt es aber auch deutliche Grenzen, denn die größere Fremdenfeindlichkeit Ostdeutschlands lässt sich kaum aus der Tatsache erklären, dass das Christentum 40 Jahre lang unterdrückt worden ist. Dann nämlich müsste Polen ein Hort der Rechtsstaatlichkeit und Ungarn ein Freiheitsparadies sein, aber beides ist dezidiert nicht der Fall. Wir müssen also neben diesen geistesgeschichtlichen Entwicklungslinien noch andere Faktoren in die Berechnung einbeziehen und uns nicht darauf beschränken, das Christentum als einen Argumentationsknüppel zu missbrauchen - in beide Richtungen.

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